und zum Lernen mit Künstlicher Intelligenz
Eine fundierte Kritik am Deutschen Schulsystem und ein Ausblick auf erweiterte Lernmöglichkeiten und Anforderungen mit KI.
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Peter Ehrich und Ursula Reinartz führten ein Schreibinterview mit John Hattie durch
Wir freuen uns außerordentlich und sind sehr dankbar, dass wir in dieser Ausgabe ein Schreibinterview mit dem neuseeländischen Professor John Hattie veröffentlichen dürfen, in dem er unsere Fragen zu einer Verbesserung des Schulsystems in Deutschland und zur Bedeutung von Künstlicher Intelligenz für das Lernen beantwortet.
Es bedarf offensichtlich des Blickes vom anderen Ende der Welt, um festzustellen, dass unser Schulsystem in Deutschland mit seiner drei- bis viergliedrigen Struktur nicht das allein-heilbringende ist. „Lasst uns ernsthaft das Tracking beenden: Kein Schüler gewinnt“, so John Hattie in unserem Interview.
Mit Digitalität und Künstlicher Intelligenz gelangen neue Wirkungsfaktoren in Schule und Bildung hinein, die weitreichende Möglichkeiten für inklusives und selbstbestimmtes Lernen eröffnen, aber auch neue Anforderungen an die Selbstverantwortung für das Lernen für die Schüler:innen selbst stellen.
Lieber Professor Hattie, …
1. In einem Interview haben Sie gesagt, dass das deutsche Schulsystem das ungerechteste sei, dem Sie je begegnet sind. Basierend auf Ihrer Forschung zu effektivem Lehren und Lernen: Welche Eigenschaften sollte ein Schulsystem haben, um das Lernen so gerecht und effektiv wie möglich zu gestalten?
Die OECD-PISA-Berichte heben hervor, dass die Bildungsungleichheit in Deutschland besonders ausgeprägt ist, insbesondere hinsichtlich des starken Zusammenhangs zwischen den Bildungsergebnissen der Schüler und ihrem sozioökonomischen Hintergrund. Beispielsweise heißt es: „Die OECD stellte fest, dass die schulischen Leistungen in Deutschland stärker mit der sozialen Herkunft korrelieren als in den meisten anderen Ländern.“ Seit dem starken Anstieg der Zuwanderung in den Jahren 2015/16 wurde diese Problematik noch verstärkt, da viele dieser Schüler ebenfalls aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stammen.
Im PISA-Länderbericht Deutschland wird festgestellt: „Der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund ist in Deutschland im Jahr 2022 auf 26 % gestiegen (2012: 13 %). … Schüler mit Migrationshintergrund in Deutschland weisen tendenziell ein benachteiligteres sozioökonomisches Profil auf als nicht zugewanderte Schüler; während 25 % aller Schüler als sozioökonomisch benachteiligt gelten, liegt der entsprechende Anteil bei Schülern mit Migrationshintergrund bei 42 %. Rund 63 % der Schüler mit Migrationshintergrund (und 5% aller übrigen Schüler) gaben an, dass die Sprache, die sie zu Hause am häufigsten sprechen, sich von der Sprache unterscheidet, in der sie den PISA-Test absolvierten.“
In Mathematik lag der durchschnittliche Leistungsunterschied zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund bei 59 Punkten zugunsten der nicht zugewanderten Schüler – ein erheblicher Unterschied. Nach Prüfung des sozioökonomischen Profils der Schüler verbleibt ein signifikanter Unterschied von 32 Punkten zugunsten der nicht zugewanderten Schüler. Im Bereich Lesen betrug der durchschnittliche Leistungsunterschied 67 Punkte zugunsten der nicht zugewanderten Schüler. Nach sozioökonomischer Anpassung verblieben immer noch 40 Punkte Differenz.
Da nur etwa die Hälfte der Schüler mit Migrationshintergrund ([von insgesamt] 34 %) eine Realschule oder ein Gymnasium besuchen, gegenüber 61 % der nicht zugewanderten Schüler, ist zu erwarten, dass sich die Ungleichheiten in Bildung – und damit auch in Einkommensvorteilen und Lebenschancen – in den kommenden Jahrzehnten noch verstärken werden
Meine Forschung (Hattie, 2023) basiert auf 14 Studien zu Tracking und Leistungsdifferenzierung, die sich allerdings überwiegend auf die Differenzierung innerhalb einer Schule beziehen und insgesamt nur sehr geringe Effekte zeigen (d = 0,09).(1)
Steenbergen-Hu et al. (2016) analysierten 13 Meta-Analysen, die belegten, dass Schüler keinen Vorteil aus der Gruppierung in verschiedene Klassen [Tracking] zogen (-0,03). Die Auswirkungen unterschieden sich nicht für Schüler mit hohem (0,06), mittlerem (0,04) oder geringem (0,03) Leistungsvermögen. Tracking hat minimale Auswirkungen auf die Lernleistungen – niemand profitiert wirklich. Auch in Mathematik und Lesen sind die Effekte zu vernachlässigen (Lesen d = 0,00; Mathematik d = 0,02). Tracking innerhalb einer Schule kann erhebliche Nachteile für die Chancengleichheit haben: Überproportional häufig werden Kinder aus niedrigen sozioökonomischen Schichten sowie benachteiligte Minderheiten in niedrigere oder nicht studienqualifizierende Bildungsgänge gesteckt (Hanushek & Woessmann, 2006; Oakes et al., 1992).
Schulen mit einem höheren Anteil an Minderheiten und sozioökonomisch benachteiligten Schülern bieten seltener ein ausreichendes Angebot an höher qualifizierenden Kursen, wodurch die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass diese Schüler höhere Bildungswege einschlagen können (Caro et al., 2009; Ferrer-Esteban, 2016). Hanushek und Woessmann (2006) kamen zu dem Schluss, dass eine frühe Sortierung nach Leistung [Tracking] die Bildungsungleichheit vergrößert, dass sowohl Leistungsschwache als auch Leistungsstarke darunter leiden und dass Tracking die soziale Herkunft weiter verstärkt – eigentlich sollte ein Schulsystem das Gegenteil anstreben.
Lasst uns ernsthaft das Tracking beenden: Kein Schüler gewinnt!
2. Angesichts der aktuellen Lage: Welchen Rat geben Sie Lehrkräften, Bildungsexperten, Eltern und Bildungsfachleuten, um das deutsche Schulsystem integrativer und inklusiver zu gestalten?
Es ist mir bewusst, dass es eine sehr einflussreiche Lobby gibt, die das aktuelle „Sortiermodell“ verteidigt – viele der heutigen „Gewinner“ im Erwachsenenleben waren Absolventen des Gymnasiums. Dennoch muss sich das Land fragen, wie es möglich ist, bereits Zehnjährigen zukünftige Erwerbschancen und Lebenschancen vorherzusagen. Dies soll keine Abwertung der Qualität der beiden anderen Schulformen bedeuten, aber der Zugang zu Universitäten etc. erweist sich für Gymnasiasten als deutlich leichter.
Eine spätere Sortierung würde helfen (wenigstens etwas), und die Einführung neuer Schulen, die alle drei Schulformen in einer Institution vereinen, wären hilfreich – vorausgesetzt es gibt flexible Wechselmöglichkeiten.
Es ist unwahrscheinlich, dass Tracking von einer übergeordneten politischen Ebene verändert wird. Aber einzelne Schulen haben sehr wohl die Möglichkeit, gemischte Lerngruppen einzurichten und die Diskussion von „Wer bekommt Zugang zu was und wer wird ausgeschlossen“ auf eine Debatte über Unterrichtsqualität und Lernerfolg zu fokussieren. (Siehe das Beispiel des Schweizer Kantons Bern, wo das Bildungsgesetz diese Flexibilität ermöglicht.)
Pekkarinen (2014) fand, dass ein Verschieben der Trennung nach Bildungsgängen [Tracking], bis die Schüler älter sind, zu mehr sozialer Mobilität und besseren Einkommenschancen über Generationen hinweg führt.
Er warnte jedoch davor, dass es kein Allheilmittel sei, die Entscheidung über die Einstufung in Bildungsgänge einfach auf später zu verschieben – dies möge zwar zu mehr Fairness führen, aber unabhängig vom Einstufungssystem müsse ja immer auf die Auswirkungen auf die Qualität von Unterricht und Lernen geachtet werden.
Meghir und Palme (2005) und Pekkarinen et al. (2006) untersuchten den finnischen Wechsel hin zu einer späteren Sortierung und stellten fest, dass eine spätere Trennung nach Schultyp zu weniger Ungleichheit am Arbeitsmarkt führte. Matthewes (2021) zeigte in einer neueren Studie zum deutschen gegliederten Schulsystem, „dass Schülerleistungen steigen, wenn nicht akademisch orientierte Schüler zwei weitere Jahre nicht nach Leistung getrennt unterrichtet werden, sondern zwei weitere Jahre gemeinsam“ (p. 1304) — insbesondere bei den leistungsschwächeren Schülern. Sie fand heraus, dass Bundesländer, die vom dreigliedrigen auf ein zweigliedriges System umstiegen, bessere und gerechtere Ergebnisse erzielten. Ihr Fazit: „Meine Ergebnisse mahnen zur Vorsicht vor früher und starrer vertikaler Leistungssortierung in Schulen – dies gilt für alle schulformübergreifende Formen von Leistungssortierung“ (p.1304).
Da einige Gewerkschaften ebenfalls nach Bildungswegen organisiert sind, müssen sie sich die größere Frage stellen, was für Deutschland in den nächsten Jahrzehnten am besten ist — wenn die zunehmende Einwanderung und der damit verbundene niedrigere sozioökonomische Status vieler dieser Familien, die überwiegend nicht das Gymnasium besuchen, für die Nation noch zentraler werden (und somit eine höhere Wahrscheinlichkeit auf Zugang zu tertiärer Bildung und Beschäftigungsmöglichkeiten besteht). Vielleicht müssen sie sich fragen, wie ihr bevorzugtes Modell auf noch mehr Schüler ausgeweitet werden könnte. Dabei ist zu beachten, dass nicht alle Schüler einen Hochschulzugang benötigen oder wünschen. Gesamtschulen weltweit tragen diesem Thema jedoch umfassend Rechnung.
Gute Lehrer können alle Schüler unterrichten, nicht nur die zuvor Sortierten.
3. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind ohne Frage aktuell und absehbar die prägendsten Transformationskräfte, die Schulen beeinflussen. Inwieweit können Digitalisierung und KI individuelles und heterogenes Lernen fördern?
Ich erwarte, dass KI, wie auch die Computertechnik, zunächst nur langsam Einzug in Schulen hält und das Wesen des Unterrichts verändern wird. Schüler werden jedoch zu eifrigen Anwendern (sowohl im positiven als auch im negativen Sinne), was womöglich zu mehr Verboten oder Einschränkungen führen dürfte. Entscheidend für Lehrkräfte ist es daher, jene Kompetenzen zu identifizieren, die für eine effektive KI-Nutzung durch Lehrende und Lernende erforderlich sind.
Nach wie vor gibt es Lehrkräfte, die täglich 150–200 Fragen stellen, mit Antwortmöglichkeiten unter drei Wörtern, meistens über Fakten. Und in fast allen Fällen wissen die Schüler, dass die Lehrkräfte eigentlich die richtige Antwort kennen. Die Schüler hingegen stellen wenige Fragen zu ihrer eigenen Arbeit, deren Antwort sie noch nicht kennen. KI verlangt Kompetenzen im Formulieren von vertiefenden, weiterführenden und fachspezifischen Fragen.
Ein weiteres Beispiel: Wer ist heute für die Qualitätssicherung im Unterricht zuständig? Der Lehrer entscheidet über Thema, Ablauf, Präsentation, Aktivitäten, Tests, Zeitaufwand, Möglichkeiten zur Wiederholung, Bewertungskriterien, Noten, Rückmeldungen. Wenn Schüler KI benutzen, dann müssen sie lernen, ihre eigene Qualitätskontrolle zu übernehmen – zu wissen, wo und wie man Hilfe findet, wie man Fehler erkennt, und wie man entscheidet, ob eine Antwort richtig, falsch oder gut genug ist.
Ebenso sollten vernünftige und ethische Maßstäbe im Umgang mit KI vermittelt werden. Wir brauchen eine konstruktive Debatte über Schutzmechanismen (“Guardrails“) und die benötigten Kompetenzen – und wir müssen dringend dahin kommen, diese zu vermitteln. Vor zehn Jahren, mit der rasanten Ausbreitung von Social Media, gab es diese Debatten nicht, und das wirkt sich heute negativ aus.
4. Welche Chancen und Risiken sehen Sie bei aktuellen technologischen Entwicklungen für die Sicherung von Teilhabe und individualisierter Förderung in heterogenen Lerngruppen?
Ich sehe enorme Möglichkeiten und große Risiken. Über die Risiken und den Bedarf an Schutzmechanismen haben wir bereits viel geschrieben (siehe https://osf.io/preprints/edarxiv/372vr_v1). Wir erforschen aktuell, welche Kompetenzen ein effektiver KI-Einsatz erfordert. Viele Schüler sind bereits jetzt sehr aktive Nutzer von KI – jedoch nicht unbedingt für das schulische Lernen.
Gleichzeitig bedeutet Individualisierung auch, von KI unterrichtet zu werden (siehe z. B. https://www.khanmigo.ai). Ein Vorteil: Diese Systeme haben eine endlose Geduld – man kann dieselbe komplexe Frage mehrfach stellen und nach verschiedenen oder besseren Antworten fragen; man kann sie bitten, drei bis vier unterschiedliche Lösungswege aufzuzeigen; man kann sie nutzen, um Feedback zu erhalten (siehe dazu unseren Artikel: https://www.frontiersin.org/journals/education/articles/10.3389/feduc.2021.645758/full).
Man kann seine Arbeiten einfügen, auf Fehler und Missverständnisse analysieren und gezielt Mini-Lektionen dazu generieren lassen. Man kann mit KI die eigene Lernentwicklung individuell nachverfolgen und sich die besten weiteren Lernschritte empfehlen lassen.
Schüler müssen jedoch lernen, sich auf diese Weise mit KI auseinanderzusetzen, um sich anschließend mit evaluativem Denken zu befassen (wie oben beschrieben). Und auch Lehrkräfte sollten lernen, wie sie diese Fortschritte sinnvoll in den eigenen Unterricht einbinden, und wie sie kollaboratives Lernen mit KI unterrichten. Denn es ist faszinierend, dass die Wirkung von Computer-Technologie viel höher ist, wenn zwei – nicht einer, nicht drei oder mehr — Schüler gemeinsam an technologiebasierten Aufgaben zusammenarbeiten.
Es geht am Ende weniger um die KI als vielmehr um qualitativ hochwertigen Unterricht und das Lernen, das mithilfe von KI und anderen Tools stattfinden kann, um die Liebe zum Wissen und um ein vertieftes Verständnis. Es geht vielmehr um die Lernumgebung, die Klarheit der Lernziele und Erfolgskriterien, die Vermittlung von Lernstrategien, die zum richtigen Zeitpunkt im Lernzyklus eingesetzt werden können, die Auswirkungen der Wahl der Lehrmethoden und Unterrichtspläne, den Feedback-Dialog zwischen Schülern und Lehrern (und KI) – all dies fassen wir in unserem aktuellen Buch zusammen: Illustrated Guide https://tinyurl.com/Hattie-Leitfaden.
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Das Quellen- und Literaturverzeichnis und die Originalausgabe des Schreibinterviews auf Englisch finden sich auf unserer Website www.ggg-web.de.
Dieses Schreibinterview mit John Hattie haben wir als Redaktion mit Unterstützung von KI übersetzt, einschließlich der zitierten Passagen. Evtl. Übersetzungsfehler liegen ausschließlich in unserer Verantwortung.
Wir waren dabei bemüht, John Hattie möglichst originalgetreu zu Wort kommen zu lassen. Hervorhebungen im Text erfolgten durch die Redaktion.
(1) Erläuterung der Redaktion: Hattie setzt eine relevante Effektstärke erst ab d=0,40 an:
John Hattie, Visible Learning 2.0, besorgt von Stephan Wernke und Klaus Zierer, Baltmannsweiler 2024, S. 25f.
Erläuterungen von Begriffen
- Tracking:
- - Äußere Differenzierung innerhalb einer Schule (within-school tracking)
- - Bildungsgangzuweisung zwischen Schultypen (between-school tracking)
- Streaming:
- - Klassenübergreifende Gruppierung nach Leistungsniveau, wie sie in der deutschen Gesamtschulpraxis durch G- und E-Kurse realisiert wird.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/4