Sieben Handlungsoptionen für mehr Bildungsgerechtigkeit
Digitalisierung – eine Chance zur Erweiterung des schulischen Möglichkeitsraums
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Olaf-Axel Burow
Die Gemeinschaftsschule steht vor einer historischen Chance: Digitalisierung kann das Versprechen einer gerechteren Bildung endlich einlösen. Während das gegliederte Schulsystem laut John Hattie "das ungerechteste System" darstellt, das er kenne, eröffnen KI-gestützte Lernplattformen völlig neue Perspektiven für personalisierte Förderung.
Doch Hatties bildungswissenschaftliche Kritik erhält durch die medizinische Forschung eine verstörende Dimension: Wie ich in meiner neuen Studie "Verlorene Zukunft" (Burow 2025) zeige, ist die Lage noch dramatischer. Der britische Epidemiologe Michael Marmot belegt in dramatischer Weise: "Bildungsbenachteiligung tötet in großem Stil" — Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen haben eine um bis zu 28 Jahre verringerte Lebenserwartung. Diese beunruhigende Erkenntnis hat mich dazu veranlasst zu recherchieren, was wir tun können, um in systemischer Perspektive ein gerechteres Bildungssystem zu gestalten.
Sieben Handlungsoptionen für die digitale Gemeinschaftsschule
Digitalisierung kreativ nutzen
Digitalisierung ist der Megatrend, denn alles, was digitalisierbar ist, wird in absehbarer Zeit digitalisiert werden. Spätestens seit der Freischaltung von ChatGPT im November 2022 wird unser aller Alltag durch das rasante Vordringen der LLMs (sprich sprachbasierte KI-Modelle wie Chat GPT) beeinflusst — mit dramatischen Folgen für das tradierte Modell der Unterrichtsschule.
Schon heute geht es immer weniger allein um Wissensvermittlung, da wir durch digitale Technologien permanent mit Wissen umstellt sind. KI-gestützte Systeme wie die Lern-App Khanmigo fungieren als "sokratische Tutoren", die Lehrkräfte nicht nur bei der Erstellung von Unterrichtsinhalten entlasten, sondern auch Schüler in personalisierter Form begleiten können.
Mehr noch: Mit Hilfe digital unterstützter Systeme ist nicht nur der Abschied vom Zeitalter der nivellierenden Massenpädagogik möglich, sondern damit eröffnet sich auch ein dringend benötigtes Zeitfenster für kreativ-künstlerische Projekte in Designwerkstätten, Tanz-, Theater- und Musikprojekten oder Makerspaces. Aus dieser Perspektive sind digital und analog keine Gegensätze, sondern können einander ergänzen und den schulischen Möglichkeitsraum erweitern.
Talente und Neigungen stärken
Dabei gilt es zu verstehen: In einer arbeitsteilig organisierten, ausdifferenzierten Gesellschaft geht es — anders als zu Zeiten der industriellen Massenproduktion — immer weniger darum, dass alle das gleiche können, sondern stärker darum, dass jeder etwas Besonderes kann. Wie ich in "Team-Flow" (Burow 2015) anhand der Nachverfolgung von Lebensläufen erfolgreicher kreativer Persönlichkeiten gezeigt habe, bedarf es entwicklungsförderlicher, vernetzter Umgebungen.
Hierzu bedarf es leidenschaftlich engagierter Lehrkräfte, die in der Lage sind, mit ihren Schülern auf Augenhöhe zu kommunizieren — so die Erkenntnis des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie.
Neue Bildungsräume erschließen
Doch personalisierte Förderung erfordert auch veränderte Lernumgebungen. Die auf militärische Kasernenbauten zurückgehende Flurschule wird den neuen Anforderungen nicht gerecht. Wenn Lernen zeit- und ortsunabhängig mithilfe interaktiver digitaler Geräte jederzeit und vielfältig vernetzt möglich ist, dann erfordert dies veränderte Lehr-Lerndesigns.
Doch "neue Bildungsräume" meint mehr als Architektur und Mobiliar, sondern bezieht sich — etwa im Rahmen eines rhythmisierten Ganztags — auch auf die Nutzung außerschulischer Lernorte und vielfältige Kooperationen mit Partnern aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Umfeldern.
Agile Schulkultur gestalten
Ob es um den Ausbau der digitalen Infrastruktur oder Gestaltung neuer Lehr-, Lern- und Prüfungsformate geht — der Amtsschimmel wiehert in Deutschland und behindert Lösungsversuche aus eigener Kraft. Deutsche Schulen können nur in ca. einem Fünftel aller Fragen selbstständig entscheiden.
Von daher scheint es, neben der dringend gebotenen Entbürokratisierung, sinnvoll, geeignete Elemente agiler Führung auch auf die Leitung von Schulen zu übertragen. Die anstehende "Große Transformation" der Gesellschaft macht es notwendig, dass Schule zu einer permanent sich wandelnden "Lernenden Organisation" wird.
Gesundheit und Resilienz sichern
Diese organisatorischen Veränderungen müssen die menschliche Dimension berücksichtigen. Studien belegen in dramatischer Weise: 51% der Schüler assoziieren Schule mit "Zwang und Druck", nur 23% erfahren "Spaß". Angesichts solcher empirisch belegten Erkenntnisse kann es ratsam sein, die Perspektive zu wechseln.
Beim Münsteraner Begabungskongress 2025 brachte Joseph Renzulli das auf die einfache Formel: "Everything begins with Interest, Enthusiasm, Engagement, Enjoyment".
Demokratie und Gerechtigkeit leben
Da der "Siegeszug der Autokraten" unser politisches System durch Fehlinformationen bedroht, werden Demokratisierung und die Förderung kritischen Bewusstseins zentral. Hierfür brauchen wir Zeitfenster, in denen man nicht nur über Zukunft philosophiert, sondern im Rahmen entsprechender Projekte Zukunftsgestaltung lernt, zur Not in einem "Schulfach Zukunft", aber besser noch in einen "Frei Day", der im schulischen Curriculum fest verankert sein muss.
Zukunftskompetenz fördern
Dabei gilt es einen Grundirrtum der alten Schule zu überwinden: die Annahme, Wissen sei eine Kompetenz. Kompetenz entsteht erst durch die Verbindung von Wissen, Haltung, Handeln sowie die Befähigung zu Metareflexion. Die vier K — Kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und Innovation — werden durch digitale Werkzeuge unterstützt.
Digitalisierung als Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit
Insofern besteht ein Schlüssel zur "# Schule der Zukunft" in der Lösung des "Zwei-Sigma-Problems": Benjamin Blooms These von 1984 wird durch KI-Entwicklung Wirklichkeit - "wir können fast jedes Kind — gleich welchen Hintergrunds — zu Spitzenleistungen befähigen, wenn es möglich wäre, ihm einen persönlichen Tutor an die Seite zu stellen".
Wenn inzwischen bis zu 60% der Kinder einen Migrationshintergrund haben, dann wird Diversity zum Regelfall, dem das traditionelle Schul- und Unterrichtsmodell nicht gerecht wird. Digitale Systeme können diesem Regelfall gerecht werden durch digital unterstützte personalisierte Lehr-Lernangebote.
Ganz offensichtlich ist das traditionelle Schulmodell — auch vor dem Hintergrund der sich wandelnden Lebenswelten und der sich rasant entwickelnden Technologie — an seine Grenzen gekommen. Diesen, für eine demokratische Gesellschaft nicht länger zu tolerierenden Zustand, können wir nur überwinden, wenn wir gemeinsam die "# Schule der Zukunft" entwickeln und wirksame Maßnahmen einleiten, um die seit Jahrzehnten andauernde Bildungsungerechtigkeit zu überwinden.
Reparatur des Bestehenden und kosmetische Eingriffe werden nicht ausreichen. Politik, Verwaltung und auch Schulleitungen sollten in diesem Sinn daran arbeiten, Zukunft zu gewinnen — auch unter Einsatz neuester Technologien — mit einer Schule, die nicht weiter nur die ohnehin Privilegierten fördert, sondern allen Lebens- und Teilhabechancen eröffnet, indem sie sie stärkt.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/4
