Länderbericht Berlin 2021-04

Stellung der Gemeinschaftsschule in Berlin

Eine seltsame Situation in Berlin: Seit vier Jahren regieren drei Parteien, die in ihren bildungspolitischen Beschlüssen die Schule für alle wollen, Inklusion als Ziel anerkennen und der politischen Bildung einen großen Wert zumessen. Der Koalitionsvertrag von 2016 ließ hoffen,

  • dass die Regierung aktiv Grundschulen und integrierte Sekundarschulen (ISS) – evtl. auch Gymnasien – ermuntert, sich zu stufenübergreifenden Gemeinschaftsschulen weiter zu entwickeln:
    „Die Koalition wird die Gemeinschaftsschulen qualitativ und quantitativ weiterentwickeln und ein Förderkonzept erarbeiten, um die Gründung von neuen Gemeinschaftsschulen attraktiver zu machen.“
  • dass die Regierung aktiv Schulneugründungen und -neubauten vor allem auf Gemeinschaftsschulen konzentriert:
    „Die Koalition unterstützt bei notwendigem Schulneubau vor allem die Neugründungen von
    Gemeinschaftsschulen.“
  • dass die Regierung aktiv auch die Gymnasien zu inklusiver Arbeit verpflichtet:
    „Inklusion betrifft alle Schularten, auch das Gymnasium.“

Die Begründung: „Die Koalition will ein Bildungssystem, das zur Entkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft beiträgt.“ Die wissenschaftliche Begleitung zur Einführung der Gemeinschaftsschulen hatte festgestellt, dass genau dies den Berliner Gemeinschaftsschulen entgegen den Prophezeiungen der Skeptiker in sensationeller Weise gelungen ist.

Was ist daraus geworden? – Knapp formuliert: “Fast nichts!“

  • Zwar wurde die Gemeinschaftsschule als stufenübergreifende Regelschulart im Schulgesetz verankert, jedoch ohne jede weitere Konsequenz. Ohne das enorme Engagement der Eltern wäre selbst das kaum erreicht worden.
  • 2008 hatten sich über 50 Schulen als Gemeinschaftsschulen beworben; heute gibt es 25. In dieser Legislatur kamen bisher gerade drei Schulen hinzu.
  • Die Senatorin verhindert die Einrichtung eines Referats für Gemeinschaftsschulen; für deren Grundsatzangelegenheiten ist ein Mitarbeiter zuständig, der Gemeinschaftsschulen für überflüssig hält.
  • Obwohl schulgesetzlich verankerte Schulart, war es bis vor kurzem unmöglich, der Senatswebsite eine Liste der Gemeinschaftsschulen unkompliziert zu entlocken: Im System der Schulnummern, sonst säuberlich nach Schularten organisiert, werden die Gemeinschaftsschulen noch immer als Sekundarschulen (ISS) geführt, die 6-jährige Grundstufe wird faktisch unterschlagen. Bei Sitzungen zu Grundstufen-Angelegenheiten werden Gemeinschaftsschulen häufig vergessen.
  • Zur Beratung grundsätzlicher Angelegenheiten wurden Gemeinschaftsschulen seit Jahren nicht eingeladen. Ihre Expertise – das lange gemeinsame Lernen (Jg. 1 - 13) und die höchste Quote (9%) der Inklusion junger Menschen mit sonderpädagogischen Förderbedarf aller Berliner Schulen – interessieren schlicht nicht.
  • Konsequenterweise kommt die Gemeinschaftsschule auch in der Schulstatistik praktisch nicht vor.
  • 2018 begingen die Berliner Gemeinschaftsschulen ihr zehn-jähriges Bestehen. Die Senatorin musste fast genötigt werden, an der Jubiläums-Veranstaltung teilzunehmen. Sie hielt eine etwas seltsame Rede und verließ die Veranstaltung frühzeitig, um an einem Bierabend des Unternehmerverbandes teilzunehmen.
  • Erfolge finden keine Würdigung. Weder der Jakob-Muth-Preis der Friedenauer Gemeinschaftsschule 2019 noch das beste Abiturergebnis aller Berliner Schulen (Notendurchschnitt 1,66) an der Wilhelm-von-Humboldt–Gemeinschaftsschule 2020 fanden eine offizielle Erwähnung.
  • Die Senatorin wehrt sich auch gegen Weiterentwicklungen, die die Schulstruktur in Bewegung bringen könnten, etwa die Abschaffung des Probejahres an Gymnasien, wie von Den Linken vorgeschlagen. Stattdessen verfolgt sie merkwürdige Qualitätskonzepte, die die Intensivierung von Testverfahren und Klassenarbeiten, andererseits die Abschaffung von MSA-Prüfungen an Gymnasien vorsehen.

Die Arbeit des Schulsenats in den letzten Jahren ist überwiegend vom „Weiter so!“, „Irgendwie wird‘s schon gehen.“ geprägt. Eine stringente Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen sähe jedenfalls anders aus.

Positive Entwicklungen

Nicht unerwähnt bleiben sollen positive Regelungen, die allen Schulen zugute kommen und damit auch die Gemeinschaftsschulen betreffen:

  • Lehrkräfte in Grund- und Sekundarstufe erhalten nun dieselbe Bezahlung. Das hilft den stufenübergreifenden Gemeinschaftsschulen, in deren Kollegien alle gemeinsam arbeiten. Unterschiedlich und ungerecht bleibt die Pflichtstundenzahl in Grund- und Sekundarstufe (28 bzw. 26).
  • Die Lehrmittelzuzahlung für Kinder bis zur Jahrgangsstufe 6 wurde aufgehoben; ab Jg. 7 bleibt es bei der bisherigen Regelung.
  • Das Mittagessen für Kinder bis zur Jahrgangsstufe 6 ist jetzt kostenlos; ab Jg. 7 muss weiterhin gezahlt werden.
Qualitätskommission der Senatorin

Anfang Oktober 2020 hat die Qualitätskommission der Senatorin ihre 100-seitigen Empfehlungen veröffentlicht. „Ziel war die Erarbeitung wissenschaftlich fundierter Empfehlungen, wie die Lehr- und Lernprozesse
auf den unterschiedlichen Bildungsetappen von der Kita bis zur Lehrkräftefortbildung so gestaltet werden können, dass erfolgreiches fachliches und soziales Lernen stattfindet und gleichzeitig Disparitäten im Bildungssystem reduziert werden.“

Sieben Professoren (Ltg. Olaf Köller, Kiel) und ein Senatsrat (a.D.) tagten elf-mal und führten über 50 Interviews durch. Daneben gab es eine Praxiskommission.

Die Empfehlungen gliedern sich in sechs Handlungsfelder. Ihr Schwerpunkt liegt überwiegend auf den Sprachen und Mathematik: kognitive Fähigkeiten, Fachdidaktik und Fachunterricht, Standards, Bewertung und Leistungsüberprüfung. Wie “Disparitäten im Bildungssystem” durch die Betonung kognitiver Anforderungen überwunden werden sollen, ohne die milieuspezifische Sortierung der Schülerschaft in den Schulformen ins Auge zu nehmen, bleibt unklar. Zu diesen und weiteren Kritikpunkten – etwa der deutlichen Bevorzugung der Gymnasien – hat der Landesvorstand Berlin Stellung genommen .

Und schließlich Corona

Aktuell sollten in der zweiten Januar-Dekade Schulen wieder geöffnet werden und die entsprechenden Anweisungen waren bereits veröffentlicht. Dies geschah trotz der Nachrichten über das Auftreten stärker infektiöser Virus-Mutationen und der Beschlüsse auf Bundesebene tags zuvor. Erst durch den engagierten Protest von Schulen und Eltern bis hin zur Ankündigung der Verweigerung verfügte die Senatorin die weitere Aussetzung des Präsenzunterrichts. Dieser Vorgang hat weit über Berlin hinaus ein Presseecho gefunden.

Welche Konsequenzen ergeben sich für die GGG-Berlin?

Fast alle aktiven GGG-Mitglieder arbeiten an Gemeinschaftsschulen oder stammen aus Gemeinschaftsschulen als korporative Mitgliedern. Die aufkommende Frustration von Kollegien und engagierten Eltern muss überwunden werden. Die Gemeinschaftsschulen Berlins müssen sichtbarer werden. Als ein Schritt wurde die „Vereinigung der Schulleiter Berliner Gemeinschaftsschulen in der GGG“ gegründet.

Wichtige Fragen lauten:

  • Wie gelingt es, dass Gemeinschaftsschulen in der Öffentlichkeit stärker als innovative und erfolgreiche Schulart wahrgenommen werden?
  • Wie können wir vermeiden, dass Gemeinschaftsschulen und integrierte Sekundarschulen sowie die Grundschulen ihre Unterschiede über die Gemeinsamkeiten stellen und damit tendenziell die Gemeinschaft der Schulen des gemeinsamen Lernens gefährdet wird?
  • Wie können wir Sekundarschulen und Grundschulen gewinnen, die Vorteile (stufenübergreifender) Gemeinschaftsschulen zu sehen und den Schritt zur Gemeinschaftsschule zu gehen?
  • Wie können wir im Interesse der Gemeinsamkeiten auch integrierte Sekundarschulen sowie die dort Arbeitenden gewinnen, Mitglied in der GGG zu werden?

JOSEFA ERZBERGER, ROBERT GIESE

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