Presse­mitteilung 2022-07-21:
Wie Heinz-Peter Meidinger die gravierenden Probleme unseres selektiven Schulsystems weichzeichnet

Am 17. Juli 2022 erschien in den Lübecker Nachrichten unter dem Titel „Die meisten fallen ja nicht ins Nichts“ ein Interview mit dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes Heinz-Peter Meidinger. Der Deutsche Lehrerverband ist eine Dachorganisation verschiedener Lehrerverbände, deren Ziel der Erhalt und die Weiterentwicklung eines vielfältig gegliederten selektiven Schulsystems ist. Unter dem Deckmantel des Schulexperten verkündet Meidinger seine scheinbar fachlich begründeten Botschaften. In Wirklichkeit sind diese ideologisch gefärbt und interessengeleitet.

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Zum Interview:

Auf die Frage wie oft es vorkäme, dass Schülerinnen und Schüler überhaupt keinen schulischen Abschluss erhielten, antwortet er: „Das trifft auf etwa 4 Prozent eines Jahrganges zu. Bei Kindern mit Migrationshintergrund ist die Quote allerdings dreimal so hoch.“ Damit nennt Meidinger eine geschönte Zahl, die den aktuellen Angaben aus dem Bildungsbericht 2022 nicht entspricht. Nach diesem haben bundesweit 5,9% der Schülerinnen und Schüler aus allgemeinbildenden und beruflichen Schulen im Jahr 2020 die Schule ohne Abschluss verlassen. Für Schleswig-Holstein liegt dieser Wert bei 8,2%, also ca. doppelt so hoch wie von Meidinger angegeben.

Wenig Empathie bringt er für diejenigen auf, die im selektiven System versagen, indem er beschwichtigend feststellt, dass die meisten ja nicht ins Nichts fielen, sondern einen Abschluss erreichten bzw. diesen später nachholen könnten. Er verkennt, dass jeder schulische Misserfolg Ängste und Narben hinterlässt. Für die davon Betroffenen geht es um Lebenschancen und gesellschaftliche Teilhabe.

Die Ursachen für das Versagen liegen nach Meidingers Auffassung im Wesentlichen außerhalb der Schule in Persönlichkeitsmerkmalen der Schülerinnen und Schüler bzw. in deren sozialem Umfeld. U.a. äußert er dazu: „Es gibt Kinder, die aus Verhältnissen stammen, in denen schulische Bildung keine Bedeutung hat. Ihnen fehlen Unterstützung und Motivation.“  Eine Antwort darauf, wie diesen Jugendlichen schulisch geholfen werden könnte und müsste, gibt er nicht. Die soziale Schieflage unseres Bildungssystems und die dadurch verursachte Bildungsungerechtigkeit verschweigt er vollständig. Ebenso ignoriert er den Auftrag an die Schulen und die für unser Bildungssystem Verantwortlichen, jeder Schülerin, jedem Schüler einen bestmöglichen Bildungsabschluss zu ermöglichen.  

Weniger Probleme sieht Meidinger in der Oberstufe. Als Argument führt er an, dass die Quote derjenigen, die durch das Abitur fallen, bei unter einem Prozent liegt. Er sagt aber nicht, dass auf dem Weg zum Abitur die Durchgangswahrscheinlichkeit lediglich bei 89% liegt. D.h., dass 11% der an Gymnasien zu Beginn des 5. Schuljahres aufgenommenen Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zum Abitur scheitern, indem sie sitzenbleiben, abgeschult werden oder vorzeitig die Schule verlassen. Meidinger verschweigt auch, dass die immer wieder propagierte Durchlässigkeit in unserem Schulsystem in der Regel ein Fahrstuhl nach unten ist.

Wenn er sich dann noch nahezu darüber beklagt, dass die Quote der Sitzenbleiber in den vergangenen zwei Jahren stark zurückgegangen sei, offenbart dies sein Verständnis unseres Schulsystems. Nicht fördern und fordern, sondern auslesen und sortieren sind die Prämissen. Auch hier geht er wieder einmal nicht auf die Folgen ein, indem er die neben den schon oben angesprochenen persönlichen Belastungen auch die durch eine solche Praxis verursachten Kosten außer Betracht lässt.

Anlass des Gespräches der Lübecker Nachrichten mit Karl-Heinz Meidinger war die Zeugnisausgabe vor den Sommerferien und die damit ggf. für einzelne Schüler*innen verbundenen persönlichen  Katastrophen, sitzenzubleiben, das Abitur nicht zu schaffen oder sogar die Schule verlassen zu müssen. Zumindest in Schleswig-Holstein hätte ihm einfallen sollen, dass es mit den Gemeinschaftsschulen Schulen gibt, an denen sitzenbleiben aus pädagogischen Gründen nicht vorgesehen ist. Aber das passt offensichtlich nicht in sein Konzept.

Herr Meidinger spricht nicht für die gesamte deutsche Lehrerschaft und schon gar nicht für alle Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern.

Dieter Zielinski

Für den Bundesvorstand

Dortmund, den 21.7.2022

 

Verantwortlich: Dieter Zielinski, Bundesvorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule, Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V., 24147 Dortmund, Huckarder Str. 12, ,Tel. 0231/58694727, https://www.ggg-web.de