Die Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin – geprägt von einer Kultur der Anerkennung, der Wertschätzung und des Miteinanders
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Das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen
Die Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin
Laïs Anders, Judith Bauch, Laura Cavallaro und Katrin Scheinpflug beantworten in einem Schreibinterview die Fragen von Barbara Riekmann.
Die Wilhelm-von-Humboldt-Schule wurde 2008 im Rahmen des Berliner Schulversuchs Pilotphase Gemeinschaftsschule neu gegründet. Sie ist seitdem von der Grundschule bis zum Abitur kontinuierlich „aufgewachsen“. 2024 erhielt die Schule den Deutschen Schulpreis.
Welche Bausteine Eurer Schule sind konzeptionell besonders relevant und bilden vom ersten Jahrgang bis zum Abitur einen Roten Faden?
„Jede*r ist anders / Keine*r ist gleich / Wir alle gemeinsam / Lernen ist leicht!“, so lautet das Schulmotto der Wilhelm-von-Humboldt Gemeinschaftsschule. Im Mittelpunkt steht: Das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrnehmen und gleichzeitig ermöglichen, sich als Teil der Gemeinschaft wohl und geborgen zu fühlen. Das ebnet den Weg, sich von der Neugierde im Lernen vorantreiben zu lassen.
Als wichtige Bausteine dazu haben wir eine Kultur der Anerkennung, Wertschätzung und des Miteinanders sowie ein Konzept des inkludierenden individualisierten Lernens auf Grundlage datenbasierter Lernbegleitung definiert.
Eine Schule ohne Klassifizierung und Stigmatisierung durch: Kombination von Lerninstrumenten für das inklusive, individualisierte und selbstorganisierte Lernen, regelmäßiges Feedback, jahrgangsübergreifendes Lernen, thematisches, exemplarisches, projektorientiertes und kooperatives Lernen in Fächerverbünden, Eigenverantwortung, Lernen an anderen Orten, eine Rhythmisierung von An- und Entspannung innerhalb des gebundenen Ganztages bis 10, keine Notenpunkte und Zensuren bis Jahrgang 9, Selbstüberprüfung zum selbstgewählten Zeitpunkt statt Klassenarbeiten bis 9, Ansprache aller mit Vornamen und „Du“ und nicht zuletzt Demokratiebildung von Anfang an.
Wie beschreibt Ihr eine Schule „als guten Ort zum angstfreien Lernen“? Welche Elemente sollte sie unbedingt haben?
Eine solche Schule muss den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, dass sie als Individuum gesehen und anerkannt werden und sich gleichermaßen als Teil der Gemeinschaft erfahren können. Selbstwirksamkeitserfahrung durch Partizipation und Verantwortungsübernahme muss durch verschiedene Formate ermöglicht werden. Durch grundsätzliche Erfahrung und Anerkennung von Vielfalt werden herabsetzende Vergleiche unmöglich gemacht. Schule muss der Ort der Lernenden sein. Schule soll ein spannender, vielfältig gestalteter und nutzbarer Ort sein, in dem individuelle Erfolge von der Gruppe gefeiert werden – ein anziehender Ort.
Welche Strukturen habt Ihr geschaffen, um angstfreies Lernen zu etablieren? Welche sind aus Eurer Erfahrung besonders bedeutsam, bzw. wirksam? Und warum?
Wir sind eine Schulgemeinschaft und jede*r ist ein Teil. Das wird sichtbar u. a. durch den alltäglichen Umgang miteinander, regelmäßige Fortbildung in gewaltfreier und lösungsorientierter Kommunikation für alle am Schulleben Beteiligten, die räumliche Anordnung der Lernenden der Jahrgänge 1–10 in einem Gebäudeteil, durch multiprofessionelle Teamstrukturen, die Querverbindungen zwischen Pädagog*innen, Schüler*innen- und Elternvertretung herstellen, Strangstärkung, jährliche Gemeinschaftshöhepunkte.
Partizipationsmöglichkeiten für die Lernenden sind in Unterricht und Freizeit grundsätzlich gegeben durch: den wöchentlichen Lerngruppenrat, den täglichen Abschlusskreis, ritualisierte Coaching- und Feedbackgespräche, eine professionelle Begleitung der Schüler*innenvertretung, von Kindern erstellte Lerngruppenregeln, partizipative Erarbeitung von Schulregeln als Schulentwicklungsvorhaben. Als herausragende Partizipationsmöglichkeit ist die Umsetzung des Hybriden Lernens mit Hilfe des Lerninstrumentes Türöffner zu bezeichnen: Die Jugendlichen schlagen vor, an welchem Lernort sie gut zum vorgegebenen Thema arbeiten können. Die Lernbegleitung coacht dazu.
Wir ermöglichen Gestaltete Lernumgebung partizipativ mit Expert*innen zu entwickeln. Der Raum als dritter Pädagoge!
Herzstück des Kinderschutzkonzepts ist der partizipativ entwickelte Verhaltenskodex, der unsere pädagogische Haltung abbildet und in allen Lerngruppen kommuniziert und sichtbar ist. Notfallnummern und Ansprechpersonen sind in Schaukästen und in jeder Toilette ausgehängt.
Wir Pädagog*innen sehen uns als Begleitung beim Lernen der Schüler*innen. Schüler*innen werden als Expert*innen betrachtet und können anderen mit ihren Kompetenzen helfen. Jeden individuellen Erfolg feiern! Erleben von Vielfalt statt vergleichen! Stärken stärken, Strategien für „Baustellen“ erlernen!
Entscheidendes Element: Kompetenzfeststellung statt Bewertung und somit keine Noten!
Welche etablierten Abläufe bezogen auf Prävention und Intervention habt Ihr entwickelt, um Konflikte zu bearbeiten?
Die bereits genannten Elemente und Strukturen sind etabliert und bieten eine grundsätzliche Prävention. Die gewaltfreie Kommunikation ist fester Teil des sozialen Lernens für die Kinder (Zaubersprache) und Prävention für Pädagog*innen durch schulinterne Fortbildung.
Streitschlichter*innen erhalten ihre Ausbildung als Lernende der Jahrgänge 4–6 und sind dann als Pat*innen für Konflikte in 1–3 zuständig. Die Fachgruppe Soziales Lernen hat zusammen mit den Jahrgangsteams Vorschläge und mögliche Angebote für Anti-Mobbing-Prävention erarbeitet, um den Präventionsteil des Anti-Mobbing-Konzepts umzusetzen.
Digitale Held*innen kommen mit Themen wie Gaming, Klassenchat, Recht am eigenen Bild, Datensicherheit in die Lerngruppen und führen Workshops durch.
Die Leitfäden für Gespräche, für kurze/lange Intervention (Streitprotokoll, Störungsprotokoll, Leitfaden für das Vorgehen bei Mobbingverdacht oder Mobbingvorfall) sind allen Pädagog*innen bekannt und auf unserer Plattform abrufbar. Die Schulleitung ist erreichbar und priorisiert diese Vorfälle. Das Krisenteam ist mit verschiedenen Professionen besetzt und arbeitsfähig. Eine erhebliche Anzahl von Kolleg*innen hat sich zu Anti-Mobbing-Expert*innen ausbilden lassen.
Was wünscht Ihr Euch an Unterstützung für Euer Anliegen einer „Schule als guter Ort“. Wo habt auch Ihr noch Entwicklungsbedarf?
Entwicklungsbedarf haben wir natürlich an verschiedensten Stellen und sind selbstkritisch. Im Alltag ist es ein großes Thema, die Verbindlichkeit von Regeln bei allen umzusetzen.
Verschiedene Netzwerke – Schulpreisträgernetzwerk, Netzwerk der Gemeinschaftsschulen (GGG), Blick über den Zaun, Fachstellen, Schulaufsicht – unterstützen uns.
Was wir uns hier an „mehr“ wünschen, richtet sich an unsere gesamte Gesellschaft und die „Großen“ in der Politik: mehr Aufmerksamkeit und – klar – auch Gelder für den Bildungsbereich und besonders die Inklusion.
Wir sind der Überzeugung, dass es eine Transformation des Schulsystems braucht! Leuchtturmschulen zeigen Möglichkeiten für Veränderung auf, schaffen aber alleine keine ausreichende Wirkkraft für großflächige Veränderungen, die allen Kindern zugute kämen.
Und zudem, wenn Ihr Euch was träumen dürftet: Was wären drei Träumchen für die nächsten fünf Jahre?
Geträumt: Digitale Ausstattung und die Medienbildung sind so ausgebaut, dass die Lernenden souverän und kritisch Teil der digitalen Revolution sind. Die Ausweitung des Projektes Hybrides Lernen führt zur weiteren Öffnung der Schule, in der die Schule ein sicherer Hafen für die Gemeinschaft bleibt.
Geträumt: Die Frequenzen in unseren Lerngruppen sind wieder niedriger, denn unsere Schule ist durch den enormen Bedarf an Schulplätzen im Bezirk derzeit räumlich extrem verdichtet.
Geträumt: Lernende und Pädagog*innen, alle in der Schule tätigen Menschen, sind resilient, unterstützt trotz Bildungskrise, fühlen sich wohl und gut! Das ist nicht nur die Voraussetzung für angstfreies und erfolgreiches Lernen, sondern auch für gute pädagogische Arbeit!
Weitere Informationen:
Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule Berlin
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2