überregional
Bildungspolitik

 

­

Eine seltsame Diskussion in unserem Land: Bildungspolitiker verkünden seit PISA 2000, dass es ein Skandal sei, wie stark der Bildungserfolg von der Herkunft eines Kindes abhängig ist, dass zu viele Kinder zu wenig lernen, dass wir mehr Akademiker brauchen, dass keiner verloren werden darf. Und bei der Umgestaltung der Schullandschaft in einigen Bundesländern kommt dann die (Zwei-)Gliedrigkeit heraus - ein Euphemismus, bei dem schon die Zwei nicht stimmt: Die Schulformen, die am stärksten sozial auslesen, werden nicht einbezogen, nämlich Förderschule und Gymnasium.

Die aus dem Durchrühren der übrigen Schulformen hervorgehende integrative Schule unterschiedlichster Namensgebung, also die "Gesamt- / Gemeinschafts- / Stadtteil- / Ober- / Sekundarschule" soll es richten, bessere Bildungsergebnisse hervorbringen, nebenbei für soziale Gerechtigkeit sorgen und möglichst noch Leim beim Zusammenhalt der Gesellschaft sein. Dass diese Rechnung zumindest teilweise aufgehen kann, zeigen jüngste Veröffentlichungen aus Nordrhein-Westfalen: 70% der Gesamtschul-Abiturienten hatten keine gymnasiale Grundschul-Empfehlung.

Immerhin:

  • In elf Bundesländern wird es die Sackgasse Hauptschule nicht mehr geben; ihre Weiterexistenz wäre ein Vergehen an den Jugendlichen.
  • Die integrativ arbeitenden Schulen werden die zahlenmäßig stärkste Schulform: Welch Fortschritt angesichts der Kämpfe um die Gesamtschule vor 30 bis 40 Jahren!
  • In einigen Bundesländern führt jede dieser GGStOS-Schulen standardmäßig auch zum Abitur: Das Gymnasium verliert damit endgültig seinen Monopolanspruch.
  • Das Gymnasium erfährt dort eine (kleine) Zumutung: Es darf Schüler nicht mehr abschieben; damit vergibt es auch alle Schulabschlüsse.
  • Die äußere Leistungsdifferenzierung ist faktisch vom Tisch; die integrierenden Schulen müssen nicht mehr intern das tun, was sie außen bekämpfen, nämlich selektieren.

Ja, ein Fortschritt, aber ein magerer! Der Weg zu einem inklusiven Schulsystem, in dem jedes Kind, jeder Jugendliche in jeder Schule willkommen ist, ist noch weit: Erst wenn Gymnasium und Förderschule in die Entwicklung der gemeinsamen Schule einbezogen werden, besteht das Problem im Wortsinn "exklusiver" Schulen nicht mehr.

In der Entwicklung stecken auch Gefahren:

  1. Zum einen, dass sich die integrativen Schulen des Jugendalters nicht als die umfassendere, sondern als die mindere Schulform verstehen. Das selbstbewusste Signal muss sein: Es ist die Schule für jeden. Auch Leistungsstarke können hier ihre Fähigkeiten entwickeln, sogar besser als beim Festhalten am leistungshomogenen Gleichschritt. Dann stellt sich die spannende Frage: Welche spezifische Aufgabe hat eigentlich das Gymnasium neben einer gemeinsamen Schule, die zu allen Abschlüssen führt?
  2. Die zweite Gefahr ist Zwietracht unter den integrativ orientierten Schulen. Zwischen Gesamtschulen unterschiedlicher Ausprägung, den noch frischen Gemeinschaftsschulen und anderen Namensneuschöpfungen wäre ein Orthodoxie-Streit fatal, der den Blick auf das gemeinsame Ziel verstellt: eine gemeinsame Schule für alle Kinder und Jugendlichen – egal wie sie heißt.

Menschen, die die Schule für alle auch im Jugendalter wollen, und Schulen, die sich auf den Weg machen, müssen sich vernetzen, auch um eine Pädagogik der Heterogenität weiter zu verbreiten. Die GGG bietet sich hierfür als Plattform an. Sie hat kurz vor ihrem 40-jährigen Bestehen diese Sichtweise in einer Grundsatzerklärung betont und nennt sich nun "Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens". Wenn möglichst viele durch ihre Mitgliedschaft ein Votum geben, kann eine solche Vereinigung glaubhaft die Stimme für die Schule für alle erheben: In Nordrhein-Westfalen sind z.B. ca. 170 von über 200 Gesamtschulen Mitglied; das macht es der dortigen Regierung schwerer, die von ihr ungeliebte Schulform allzu sehr zu drangsalieren.

Fast neunzig Jahre nach der Reichsschulkonferenz ist die gemeinsame Schule für alle noch immer nicht realisiert. Wir müssen also weiterhin für die Schule der Demokratie kämpfen, weiterhin mahnen, nicht beim Erreichten stehen zu bleiben, auf gelingende Beispiele und ihre Erfolgsbedingungen aufmerksam machen, aufpassen, dass das in Bewegung geratene Bildungssystem nicht eine problematische Richtung einschlägt. Wir hoffen auch weiterhin auf verlässliche Bündnispartner wie GEW und Grundschulverband. Es gibt viel zu tun!

Lothar Sack
Bundesvorsitzender GGG
Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule - Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.

Dieser Artikel erschien in Erziehung und Wissenschaft 1/2010

GGG-Journal 2009/4