Die Ernst-Reuter-Schule – ein multiprofessionelles Unterstützungsteam für einen guten Schulalltag
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„Schule als guter Ort – angstfrei lernen – sich wohlfühlen“
Die Ernst-Reuter-Schule in Offenbach
Sabine Henning, Carolin Rost und Konstanze Schneider
Wir haben zu unserem Magazinthema ein Schreibgespräch mit der Schulleiterin Sabine Henning der Offenbacher Ernst-Reuter-Schule, IGS mit Grundstufe, und der Schulgesundheitsfachkraft Carolin Rost geführt. Ein ausführliches Schulportrait der Ernst-Reuter-Schule finden Sie in unserer Ausgabe 2022/3, dem Hessenmagazin.
Wie kommen Sie in der ERS der Wunschvorstellung einer Schule als gutem Ort näher?
Die ERS ist ein großstädtische Integrierte Gesamtschule mit Grundstufe im Rhein-Main Gebiet, die von ca. 900 Schülerinnen und Schülern besucht wird, die sich bezüglich ihrer Bildungslaufbahn, ihrer Fähigkeiten und ihrer Motivation zu lernen, sehr stark unterscheiden. Erfolgreiches und angstfreies Lernen setzt also voraus, dass die Lernangebote grundsätzlich auf Unterschiedlichkeit hin angelegt sind. Konsequente Binnendifferenzierung im Unterricht und auch in der Leistungsmessung ist eine große Herausforderung für die Lehrkräfte und braucht zum Gelingen gemeinsame, nachhaltige Anstrengung und ein Konzept. Wir arbeiten seit der Umwandlung in eine IGS im Jahr 2016 mit (Lern-) Aufgaben auf vier Niveaustufen; von sehr einfachen Basisaufgaben bis zu komplexen Transferaufgaben. So können auch Schülerinnen und Schüler mit großen Lernlücken und/ oder Motivationsproblemen angstfrei mitarbeiten, da es immer Aufgaben gibt, die sie erfolgreich bearbeiten können.
Um ein guter Ort zu sein, muss Schule neben der Möglichkeit angstfrei zu lernen auch möglichst angstfreie soziale Strukturen bieten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es (sehr) viele Schülerinnen und Schüler gibt, die sich in der sozialen Beziehung zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sehr unsicher, unwohl und angstvoll fühlen. Sie fürchten unbeaufsichtigte Situationen, die herabsetzende Kommentare, Blicke und Posts in den sozialen Medien ermöglichen. Auch fällt es diesen Schülerinnen und Schülern häufig schwer, Personen zu finden, denen sie sich mit diesen Sorgen und Ängsten öffnen können.
Weiterhin wissen wir, dass selbst gutes Classroom Management und Präventionsangebote negatives Verhalten untereinander zwar begrenzen, aber nicht wirklich verhindern können.
Daher versuchen wir, Schülerinnen und Schülern, die mit Ängsten und Sorgen untereinander oder auch in anderen Bereichen kämpfen, möglichst viele Unterstützungspersonen anzubieten.
Wie sieht Ihr Unterstützungskonzept für die Schülerschaft im einzelnen aus?
In der Mindmap „Sei mutig und stark“ (siehe Abb.) werden den Schülerinnen und Schülern diese unterstützenden Personen vorgestellt. Die Zugänglichkeit wird durch offene Angebote und Projekte im Unterricht unterstützt: So stellen sich die Sozialpädagoginnen im Sozialtraining (Grundstufe), Interviews und dem Projekt Fair im Netz (Jg.5) vor, während die Gesundheitsfachkraft durch tägliche Sprechzeiten und bspw. den Präventionsunterricht zur Stärkung der Persönlichkeit in Jg. 6 den Schülerinnen und Schülern bekannt und zugänglich wird.
Offene Angebote des Unterstützungsteams ab Klasse 5 sind die Teestube in der Mittagspause oder nach Unterrichtsschluss Die gleiche Funktion hat der tägliche Pausentreff für Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7.
Häufig müssen darüberhinaus aber auch die Lehrkräfte initiativ werden und weiterführende professionelle Unterstützung für die Schülerinnen und Schüler einfordern. Aufgrund unserer Erfahrung geht dies unaufgeregt und schnell. Das erleichtert auch den Umgang mit externen Stellen wie z.B. der Polizei, Kliniken, dem Jugendamt.
Sie beziehen sich mehrfach auf das Unterstützungsteam der ERS. Können Sie uns dazu etwas mehr sagen? Die Übersicht weist neun Personen ganz unterschiedlicher Professionen aus- wie arbeiten diese zusammen? Wie werden Absprachen und Informationen ausgetauscht? Was hat sich dabei bewährt?
Die Wirkungsmöglichkeit der Lehrerin oder des Lehrers ist begrenzt. Wir haben uns daher bemüht, Personen anderer Professionen mit vielfältigen Fähigkeiten an die Schule zu bekommen. Dass sich aus den Einzelpersonen ein funktionierendes Team gebildet hat, ist nicht selbstverständlich, verlangt Aufmerksamkeit und das aktive Schaffen der nötigen Bedingungen. Das Unterstützungsteam trifft sich wöchentlich zu einer gemeinsamen Koordinationssitzung, vierteljährlich mit einem Supervisor und halbjährlich zu einem eigenen „Pädagogischen Tag.“
Wchtig ist, die beratende und intervenierende Arbeit des Unterstützungsteams eng mit der alltäglichen schulischen zu verknüpfen und zu koordinieren, um „Mehrfachberatungen“ und damit verbundene Missverständnisse zu vermeiden.
Auch hier war der Aufbau einer festen Kommunikationsstruktur notwendig: Wir nennen diese das PÜZ (Professionell übergreifende Zusammenarbeit). Hier treffen sich einmal wöchentlich für eine Stunde das Unterstützungsteam, die Schulleitung (alle Mitglieder!), die Präventionslehrkraft, die Inklusionsbeauftragten und das BFZ Team zum Austausch über die aktuellen „Fälle“. Dies geschieht zurzeit in einem „Speed-Dating-Verfahren“: Die Moderation liegt jede Woche bei einem anderen Mitglied, das eingangs die Ergebnisse der Verabredungen / Aufträge der vergangenen Woche abfragt und dann die aktuellen Anliegen sammelt. Dabei nennt der Fallgeber, welche Personen er bei der Besprechung braucht; die übrigen Teilnehmer ordnen sich nach Interesse und Infostand selbst zu. Anschließend verteilen sich die so gebildeten Kleingruppen auf verschiedene Räume und beraten sich zu dem Anliegen. Es werden die Eckpunkte und die Verabredungen / Aufträge notiert, im Plenum knapp vorgestellt und ggf. ergänzt. Dieses Verfahren funktioniert grundsätzlich gut, allerdings bedarf es sehr viel Disziplin bei allen Teilnehmenden. Eine große Stärke dabei sind die vielen unterschiedlichen Perspektiven und Ideen, die so zur Lösung beitragen können.
Aus Beobachtungen und deren Besprechung wissen wir, dass die Unterstützungsangebote von den Schülerinnen und Schülern sehr gut angenommen werden, dass es unzählige Gespräche zu kleinen, aber auch gravierenden Nöten gab und gibt und wir eigentlich nie mit bisher unbekannten schwerwiegenden Krisen oder Konflikten überrascht werden.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten- was wünschen Sie sich für Ihre Schule als „guter, angstfreier Ort“?
Wir wünschen uns mehr von dem, was wir begonnen haben:
Wir wünschen uns mehr ZEIT, um miteinander zu sprechen, uns zu koordinieren und zu beraten. Dies geht nicht informell zwischen Tür und Angel, sondern bedarf festgelegter Zeiten und verabredeter Strukturen. Solche sind im Hinblick auf die stetig wachsenden Anforderungen vor allem an den Erziehungsauftrag der Schulen unbedingt notwendig.
An Schulen kommen täglich hunderte bis über tausend Heranwachsende zusammen: für einen angstfreien Alltag in dem Schülerinnen und Schüler sich wohlfühlen, bedarf es neben den Lehrkräften weiterer PERSONEN, die in diesem Alltag anwesend und sichtbar sind, um möglicherweise angstbesetzte Situationen zu entschärfen, Pausen zu gestalten und andere außerunterrichtliche Angebote zu machen.
Wir wünschen uns, dass ernsthaft wahrgenommen wird, dass GUTE Schulen heute so viel mehr Aufgaben haben als bisher und dass dies nicht mit der traditionellen Personalversorgung und den Strukturen der Vergangenheit gehen kann. Wir wünschen uns, dass der Mut und die Entschlossenheit aufgebracht werden, den Schulen nicht nur ständig neue Aufgaben zu geben, sondern die Bedingungen, unter denen diese erledigt werden können, endlich grundsätzlich neu zu denken!
Weitere Informationen:
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2025/2