Erstaunlich viel Konsens und der alte Streit um die richtige Schulstruktur
Im Herbst 2023 hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen die Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“ eingesetzt. Nun liegt der Abschlussbericht vor (Landtagsdrucksache 18/15900 vom 01.10.2025). Er erscheint fast zeitgleich zur Veröffentlichung der Ergebnisse des aktuellen IQB-Bildungstrends, dessen Ergebnisse für NRW dramatisch schlecht sind – schlechter als jemals zuvor. Kann der Bericht einen Weg aus der Krise weisen?
Schaut man in die Geschäftsordnung des Landtags, so dient eine Enquetekommission der „Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“. Und die Entscheider*innen erhalten nun in der Tat umfassende Informationen, fundierte Analysen und gute Vorschläge für eine bessere Bildungspolitik. Auf insgesamt 332 Seiten enthält der Bericht eine ausführliche Situationsbeschreibung, 248 im Konsens der Fraktionen formulierte, „geeinte“ Handlungsempfehlungen und zahlreiche Sondervoten der einzelnen Fraktionen. Politisch bedeutsam ist der Konsens – einen interessanten Ausblick auf den NRW-Landtagswahlkampf 2027 ermöglicht der Dissens bei der Schulstruktur.
Auf den Start kommt es an. Die zentralen Handlungsempfehlungen betreffen die frühkindliche Bildung und die Grundschule. „Jedes Kind soll mit spätestens vier Jahren auf seinen Entwicklungsstand hin getestet werden. Bei diagnostizierten Bedarfen werden die Kinder verbindlich gefördert. In der Kita sollen die pädagogischen Fachkräfte die Sprachkompetenzen der Kinder regelmäßig nach verbindlichen Standards erfassen, individuelle Förderbedarfe ermitteln und entsprechende verpflichtende Maßnahmen durchführen. Beim Übergang in die Grundschule werden die Ergebnisse der Testungen an die aufnehmende Schule weitergereicht. Dort werden die sprachlichen Kompetenzüberprüfungen und die verbindlichen Maßnahmen fortgeführt. Die pädagogische Arbeit in der Kita fördert altersgerecht die Schulfähigkeit der Kinder.“
Auch wenn es banal klingt, entscheidend ist hier das Wort „verbindlich“. Der frühen Diagnose folgt die verbindliche Förderung, in der Schule werden sprachliche Kompetenzüberprüfungen und die verbindliche Förderung fortgesetzt. Wer mag kann das als Kritik der Enquetekommission an den bisher vergeblichen Bemühungen der schwarz-grünen Landesregierung werten, den Entwicklungsstand aller vierjährigen Kinder in NRW zu diagnostizieren und sie in der Folge verbindlich zu fördern.
Interessant ist die Festlegung, dass die Erreichung der Mindeststandards in der Grundschule und der Sekundarstufe I durch alle Kinder und Jugendlichen entscheidende Vorgabe sein soll und für mehr Chancengleichheit sorgen soll. „Bei der Steuerung von Maßnahmen zur Minderung von Chancenungleichheit in der Bildung wird der Fokus auf diejenigen Kinder gelegt, die die Mindeststandards nicht erreichen, vor allem im Grundschulbereich. Diese Konzentration soll sich auch auf die Verteilung finanzieller Ressourcen erstrecken. Die Operationalisierung soll über den schulischen Sozialindex erfolgen, dessen Indikatoren auf der Grundlage der Einführung von Schülerindividualdaten weiterentwickelt werden sollten.“ Bei dieser Fokussierung auf den Grundschulbereich ist es konsequent, dass Grundschulen mit hohem Sozialindex ermöglicht werden soll, die Schulzeit entsprechend den Leistungen von Schülerinnen und Schülern auf fünf Schuljahre verteilt zu organisieren.
Wer mag, kann das als Gegenmodell sowohl zum MSB-Schulkompass 2030, den bisherigen Bemühungen zur Stärkung der Basiskompetenzen als auch zum Modell der sozialindizierten Ressourcensteuerung in NRW lesen. Wiegen und messen allein – wie im Kompass - reicht nicht und halbherzige Zuweisung zusätzlicher Ressourcen durch den Sozialindex oder im Startchancenprogramm sind nicht zielführend.
Running Gag in Diskussionen über Reformen in der Schulpolitik der letzten 25 Jahre sind Vorschläge zur Neujustierung der Rolle und den Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Schule sowie zur Reform der Schulaufsicht. Auch der Abschlussbericht der Enquete macht hier Vorschläge. Der Abstraktionsgrad der Aussagen zur Reform der Schulaufsicht ist hoch – ähnlich hoch wie in den in diesem Punkt folgenlosen Festlegungen in den Koalitionsverträgen der amtierenden und der vorherigen Landesregierungen. Erwartbar war, dass erneut (und unkritisch?) das Heil in der selbständigen oder eigenverantwortlichen Schule gesucht wird. Problematisch ist hier nicht die Funktionszuweisung für die Einzelschule, problematisch sind bisherige Erfahrungen mit der Übertragung neuer Aufgaben auf die einzelne Schule. Es fehlte stets an der erforderlichen Unterstützung und der politischen Gewährleistung der Gelingensbedingungen.
Natürlich gibt es im Bericht Empfehlungen für die Themenfelder datenbasierte Steuerung, Kompetenzen und Standards, Bildungsstrukturen und -organisation, Übergänge, Sozialraum, Inklusion, Heterogenität, Diversität, Personal, finanzielle Ressourcen, Digitalisierung und KI, Berufsorientierung, Berufliche Bildung, und Akademische Bildung. Themen, die - kein Wunder - auch die Landesregierung im Blick hat. Es wäre zu wünschen, dass die dem Bericht hier zu entnehmenden Vorschläge Beachtung in der Landespolitik fänden.
Leider erweckt der Abschlussbericht auf den ersten Blick den Eindruck, die Schulstruktur spiele bei Bemühungen um mehr Chancengleichheit bzw. mehr Bildungsgerechtigkeit keine Rolle. In einem Sondervotum kritisieren die Grünen das deutlich: „Aus Sicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fehlen in Kapitel 7 Handlungsempfehlungen zum Thema Schulstruktur.“
Gewidmet ist dem Thema Schulstruktur zunächst Abschnitt 4.3 „Schulformen und ihre Bedeutung für den Lernerfolg“. Konstatiert wird am Ende des Abschnitts: „Das Schulsystem in Nordrhein-Westfalen von heute ist durch eine Vielzahl von Schulformen und einen hohen Gestaltungsspielraum der Kommunen gekennzeichnet, die für die Schulentwicklungsplanung verantwortlich sind. Die Schulstruktur in Nordrhein-Westfalen zeigt starke interkommunale Unterschiede. In einigen Kommunen gibt es keine Hauptschulen mehr, während in anderen so-wohl Sekundar- als auch Gesamtschulen existieren. In manchen kleinen Kommunen stellt eine der beiden Schulformen das einzige Angebot der Sekundarstufe I dar. Insgesamt lassen sich Kommunen mit einer oder bis zu fünf verschiedenen Schulformen finden.“
Soll das so bleiben? Sind das einheitliche Lebensverhältnisse in allen Landesteilen, ermöglicht die Lage unkomplizierte Mobilität von Familien und - vor allem - kann eine Veränderung der Schulstruktur zu mehr Chancengleichheit und mehr Bildungsgerechtigkeit führen. Was ergibt der Blick in die Handlungsempfehlungen?
Wenig. Unter Nummer 65 wird empfohlen „die Durchlässigkeit des Schulsystems zu stärken und das Bildungssystem mit der Möglichkeit des Aufstiegs durch Bildung transparenter zu gestalten, um die Zahl der Schulabbrüche zu reduzieren und an den individuellen Stärken ausgerichtete berufliche oder akademische Bildungsabschlüsse zu ermöglichen.“
Mit vorausschauendem Blick auf die Debatte über die Schulstruktur im Landtagswahlkampf 2027 ist der Abschlussbericht dennoch eine spannende Quelle. Hier gibt es zu den Themen Schulstruktur, Durchlässigkeit, Abschlüsse und Übergänge Sondervoten, Repliken auf Sondervoten und Repliken auf Repliken. Unterschiedliche Positionen werden klar erkennbar. Enthaltsam ist hier nur die CDU.
Die SPD-Fraktion bezieht eine für die Partei neue Position. Ihr Sondervotum lautet: „Die Gymnasien und Gesamtschulen bleiben als Schulen der Sek I und II bestehen. Haupt-, Sekundar- und Realschulen werden sukzessive auf eine Schulform der Sek I verschmolzen, die alle Abschlüsse der Sekundarstufe I anbietet. Perspektivisch ist im Rahmen einer Evaluation zu prüfen, ob diese Sekundarstufenschulen sukzessive in eine Säule neben dem Gymnasium überführt werden können, wie es in Hamburg üblich ist. (…) Die Schulen der Sekundarstufe I müssen dabei verbindlich mit einer Oberstufe einer Gesamtschule, eines Gymnasiums bzw. einem Berufskolleg kooperieren.“ Als langfristiges Ziel wird hier also ein Zwei-Säulen-Modell propagiert.
Aufgrund der Enthaltsamkeit der CDU nahm allein die FDP die Rolle wahr, vor der Einheitsschule zu warnen. „Die FDP-Fraktion lehnt eine strukturelle Reduktion auf ein zweigliedriges Schulsystem ab. Schulstrukturpolitik darf nicht zentralistisch vereinheitlichen, sondern muss regionale Vielfalt, pädagogische Profile und die Wahlfreiheit der Eltern respektieren. In der Darstellung der SPD-Fraktion fehlt die drohende Gefahr, dass eine erzwungene Verschmelzung bestehender Schulformen bewährte Angebote entwerten und die Akzeptanz vor Ort untergraben könnte. Ebenso fehlt eine Würdigung von kleineren Schulsystemen wie Haupt- und Realschulen, die alleine durch geringere Schülerzahlen eine andere Lernatmosphäre und Förderchancen als große integrierte Schulsysteme bieten können. Diese Möglichkeit zum Erhalt kleinerer weiterführender Schulen würde durch eine erzwungene Zweigliedrigkeit erheblich erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Ein durchlässiges Bildungssystem mit Bildungschancen für alle Kinder kann ebenso durch Qualitätsverbesserungen innerhalb bestehender Vielfalt erreicht werden.“
Und die Grünen? Sie bleiben zunächst vage und empfehlen „eine Weiterentwicklung der nordrhein-westfälischen Schulstruktur mit dem Ziel, ein chancengleiches und an den individuellen Potenzialen der Kinder orientiertes Bildungsangebot zu schaffen.“ Sie nennen u.a. folgende Maßnahmen: eine Verschlankung des mehrgliedrigen Schulsystems in der Sek I zugunsten von mehr Übersichtlichkeit, Qualität und Transparenz sowie die Etablierung der Primusschulen als Schulen des längeren gemeinsamen Lernens von Klasse eins bis zehn in kommunaler Absprache als gängige Schulform. Und sie möchten als Regel vorgeben, dass alle bisherigen weiterführenden Schulformen die Schülerinnen und Schüler, die sie aufnehmen, zu einem ersten Schulabschluss bringen.
Interessante Debatten im Wahlkampf sind also einmal mehr sicher
Christin Siebel, Vorsitzende der Enquetekommission, hat in der Plenardebatte zur Übergabe des Abschlussberichts u.a. gesagt: „Mehr geht immer, und alles hat seine Zeit.“ Ja, mehr geht immer. Aber eine zügige Umsetzung der zentralen und einvernehmlich formulierten Handlungsempfehlungen würde NRW voranbringen auf dem Weg zu mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Und dabei wäre etwas weniger Borniertheit in der Schulstrukturdebatte sicher hilfreich.
Michael Schulte
Mitglied im Landesvorstand der GGG NRW
Dokumente
Antrag der Fraktion der SPD
Einsetzung einer Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“
(EK Chancengleichheit)
Enquetekommission 1:
Chancengleichheit in der Bildung - Abschlussbericht
Abschlussbericht
Landtagsdebatte zum Abschlussbericht der Enquetekommission
Chancengleichheit in der Bildung (Enquetekommission I)
Plenarprotokoll 18/104 vom 09. Oktober 2025 (S. 21ff)
Gutachten
Prof. Dr. Jörg Bogumil, Prof. Dr. Wolfgang Böttcher
Chancengleichheit durch Bildungssteuerung – Erfahrungen und Optimierungsvorschläge
Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag der Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“ des Landtages NRW
Prof. Dr. Nikol Rummel, Ann-Christin Falhs, Dr. Astrid Wichmann, Prof. Dr. Vincent Aleven
Schule in der Kultur der Digitalität – digitale Bildungstechnologie und Künstliche Intelligenz im Unterrichtsprozess und im Rahmen individueller Förderung
Forschungsgutachtenzur Vorlage bei der Enquetekommission I „Chancengleichheit in der Bildung” des Landtags Nordrhein-Westfalen
