Der Fokus von HEFT 2024/4 unserer Zeitschrift Die Schule für alle liegt auf der Frage, wie mit Begabungen umgehen. Dabei ist der Begriff der Begabung schillernd, aus der Vergangenheit eher statisch gesehen, fast genetisch bedingt. Dabei setzt sich immer mehr die Sichtweise durch, dass jedes Kind, jeder Jugendliche Stärken hat, die es zu finden und zu entwickeln gilt.
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C. Lohmann: Begabung ist dynamisch und keine statische Größe
Bereits 1969 wusste man: Begabung ist entwickelbar.
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Begabung ist dynamisch
und keine statische Größe
Christa Lohmann
Mit Heinrich Roth wurde die Bildungsforschung revolutioniert, weg von der Vorstellung der ererbten Begabung, hin zu der Forderung, Begabung zu entwickeln; weg von dem genetisch dummen Kind hin zu einem Unterricht, der die Talente und Fähigkeiten aller Lernenden entdeckt und fördert.
Die Forschung entdeckt einen neuen Begriff des Lernens
Die 68er waren der Beginn bildungs- und schulpolitischer Reformen. Der Deutsche Bildungsrat, 1965 von Bund und Ländern gegründet, fungierte 1966–75 als Kommission für Bildungsplanung. „[Diese] hielt es für angemessen, einen Ausschuss von wissenschaftlichen Sachverständigen einzurichten, der das Problem der Begabung, Begabungsförderung und Begabungsauslese“ nach dem Stand der gegenwärtigen Forschung darstellt“1 (S. 17). Entstanden ist daraus das Gutachten Begabung und Lernen2. Die 16 Wissenschaftler in dem von Heinrich Roth herausgegebenen Band waren sich einig, dass Pauschalbegriffe wie Begabung oder Intelligenz keine entscheidende Rolle mehr spielen. Der Zentralbegriff wird der Lernbegriff, ein neuer Begriff des Lernens, ausdifferenziert in Lernfähigkeit, Lernprozess, Lernerfahrungen, Lernzuwachs, Lernleistungen sowie deren Steuerung und Steigerung. Lernleistungen, so der Ausschuss, sind von weit mehr und auch von weit bedeutsameren Bedingungsfaktoren abhängig als nur von dem Faktor Begabung im Sinne einer erblich eindeutigen Anlage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die verschiedenen Faktoren, die eine Lernleistung beeinflussen, dann eine besonders günstige, lernfördernde Wirksamkeit haben, wenn sie zusammenwirken und sich gegenseitig unterstützen (S. 22).
Welche Bedingungsfaktoren sind für Lernleistungen verantwortlich?
Der Ausschuss entwickelte demzufolge eine Untersuchungsstrategie, nach der die verschiedenen Sachverständigen in ihren jeweiligen Gutachten – 14 an der Zahl – eindeutig und präzise darlegen sollten, „welche Persönlichkeits- oder Umweltvariable als Bedingungsfaktoren für das Zustandekommen von Lernleistung gemeint ist“ (S. 19). Im Einzelnen wurden untersucht:
- der biogenetische Anteil, d. h. die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit der Lernleistungen (Begabung) von erbbestimmten Anlagen,
- der entwicklungspsychologische Anteil, d. h. die Abhängigkeit bzw. die Unabhängigkeit der Lernleistungen von endogenen Reifeprozessen, die Bedeutung altersspezifischer Lernbereitschaften und die Rolle sachstrukturell bedingter Sequenzen im Lernprozess,
- der Anteil der Leistungsmotivation, d. h. die Abhängigkeit der Lernleistungen von der Lernmotivation, von der Anstrengungsbereitschaft zu lernen,
- die Abhängigkeit dessen, was wir Begabung nennen, von transferfördernden Lernprinzipien, deren Anwendung in Lehrverfahren den Lernenden befähigt, auch die höchste intellektuelle Leistungsfähigkeit, das Problemlösen, zu erlernen,
- der Anteil der Lernangebote in der frühen Umwelt, d. h. die Abhängigkeit der Lernleistungen von den Lernangeboten und Lernerfahrungen in der Familie, wie sie in Sozialisationstheorien enthalten sind,
- der Anteil der sprachlichen Anregungs- und Lernangebote in der frühen Umwelt, d. h. die Abhängigkeit von der schichtspezifischen Unterschiedlichkeit des kulturellen Milieus der Elternhäuser,
- der Anteil der Bildungswilligkeit der Eltern, ihre Einstellung zu Schule, Schulleistung, Schulerfolg,
- die Frage der begabungsgerechten Auslese während der Schulzeit,
- die Frage, inwieweit das Lehrerurteil in Zeugnissen, Noten etc. den Lernleistungen gerecht wird – die Frage nach der Objektivität,
- die Frage nach der Zuverlässigkeit der Abiturnoten als Voraussage für die Studierfähigkeit.
- Schließlich sollte untersucht werden, inwieweit Schulorganisation, Lehrpläne, Lehrverfahren, Lehrerverhalten und Lernmittel auf die Entwicklung von Begabungen und die Steigerung von Lernleistungen Einfluss nehmen (S. 20f.).
Lernleistungen verbessern heißt, die Effizienz des ganzen Erziehungsfeldes zu erhöhen
Im Abschlusskapitel seiner Einleitung hält Roth als durchgängigen Erkenntnisgewinn aller Gutachten die erkannte und erforschte Vielfalt von Bedingungsfaktoren fest, die an der Effektivität von Lern- und Lehrprozessen beteiligt sind. Einseitige Aussagen über eine einzige Variable halten keiner ernsthaften Kritik stand. „Man darf also, wenn man von Begabung spricht, nicht an eine isolierte und statische Größe denken, die es als solche nicht gibt, sondern an eine dynamische Veränderliche in einem Netz von Bezugsgrößen, die alle mitentscheiden, ob Potentialitäten entwickelt oder nicht entwickelt werden. Wer die Lernfähigkeiten und Lernleistungen in einem Schulwesen verbessern will, muß versuchen, die Wirksamkeit aller Faktoren, die Effizienz des ganzen Erziehungsfeldes, zu erhöhen“ (S. 65).
Roths Forschungen haben die Pädagogik der Gesamtschule stark befruchtet
Unabhängig von der Neudefinition, was Begabung ist bzw. nicht ist, weisen die einzelnen Themen der wissenschaftlichen Untersuchungen weit in die spätere Arbeit und Entwicklung der Gesamtschulen hinein, für die es zeitgleich mit Begabung und Lernen die ersten Schulversuche gab. Z. B. die Bedeutung der Motivation, die frühkindliche Erziehung, die Rolle der Familie, die schichtspezifisch unterschiedlichen Herkunftsmilieus der Kinder, die Problematik des Lehrerurteils und vor allem der Zusammenhang der gesamten Schulorganisation auf Lernen und Lernleistung.
Auch wenn der Begriff nicht fällt, weist Roth bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Bedeutung von Individualisierung hin, wenn er effektives Lernen dadurch gelingen sieht, dass jeder nach seinen Neigungen, Erfolgen und Fortschritten Schwerpunkte bilden darf, dass Neigungsgruppen gebildet werden und dass man Lehrgänge schneller durchlaufen darf. Und er vergisst nicht darauf hinzuweisen, dass Lehrer so ausgebildet sein müssen, dass sie dergleichen Anforderungen gerecht werden (S. 67).
1 Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission, 4. Begabung und Lernen. Stuttgart 1969
2 Bis 1970 lagen u. a. auch die Gutachten zur Ganztagsschule und Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen vor.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
U. Reinartz: John Hattie und der Begabungsbegriff
Zwischen vererbter Intelligenz und erworbenen Fähigkeiten: Lernen bei John Hattie heißt Ausbau des individuellen, noch nicht verwirklichten Potenzials.
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John Hattie
und der Begabungsbegriff
Ursula Reinartz
Welche Relevanz hat Begabung für erfolgreiches Lernen bei John Hattie? Und in welchem Verhältnis stehen Begabung und Lernen zueinander?
Potenzial statt Begabung
John Hattie legt in „Visible Learning 2.0“ (1) den Begriff „Potenzial“ zu Grunde.
„Die Grundaussage dieses Buches ist, dass jedes Kind von Geburt an ein Lernender ist. Alle sind unterrichtbar, alle können sich entwickeln und allen kann beigebracht werden das Lernen wertzuschätzen“ (Hattie, S. 95). So ist es das Ziel eines jeden, das ihm zugeschriebene oder auch selbst angedachte Potenzial zu erreichen, oder besser noch, zu erkennen, dass er oder sie darüber hinaus gehen kann (Hattie, S. 96f).
Intelligenz und Lernleistung
Laut einer Untersuchung von Hattie und Hansford aus dem Jahr 1982 besteht eine Korrelation von 0,51 zwischen Intelligenzmessung und Lernleistung. „Das ist ein hoher Wert, aber es gibt viele weitere Möglichkeiten, die Lernleistung von allen Schülerinnen und Schülern zu verbessern – unabhängig von ihrer Intelligenz“ (Hattie, S. 63).
Inwiefern ist Intelligenz oder angelegte Begabung nach John Hattie 2024 ausschlaggebend für den Lernerfolg? Prüft man die von ihm untersuchten Faktoren daraufhin, so wird man am ehesten mit den Begriffen „vorausgehende Fähigkeiten & Intelligenz“ und „vorausgehendes Leistungsniveau“ fündig (2) Beide Faktoren haben danach jeweils eine große Bedeutung mit einer hohen Effektstärke und Sicherheit im Ergebnis. Beide Begriffe beinhalten allerdings sowohl beim Lernenden angelegte als auch durch vorheriges Lernen erworbene Fähigkeiten (Hattie, S. 62f.) und sind dahingehend nicht trennscharf abgrenzbar.
John Hattie setzt aber seinen Fokus auf das Lernenkönnen, indem er sagt: „… wenn wir die aktuellen Leistungen als auch das intellektuelle Potenzial kennen, [sind wir] besser in der Lage …, das noch nicht verwirklichte Potenzial zu verstehen“ (Hattie, S.63).
Bedeutsam ist, dass aus den über 200 Untersuchungskriterien seiner Auswertung von Metastudien vor allem die Aspekte eine besondere Wirksamkeit haben, die mit einer positiven Erwartung des Lernenkönnens verbunden sind, sei es vonseiten der Eltern, der Lehrenden oder der Lernenden selbst.
Einstellungen und Haltung des Lernenden selbst spielen beim Erwerb von Fähigkeiten eine überaus große Rolle: die „Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit“, „positive Selbstwirksamkeitserwartungen“ und ein „positives Selbstkonzept“. Hinzu kommen „Feldunabhängigkeit“, nämlich die Fähigkeit vom Ganzen her und analytisch zu denken, „kritisches Denken“ und „exekutive Funktionen“ (3), die die Steuerungen von Denkprozessen beinhalten.
Außerdem ist eine positive Gefühlslage gegenüber dem Lernen wichtig: Emotionen, wie „Freude“, „Neugierde“ und auch schlichtweg „Glücklichsein“ beim Lernen. (4) Dazu gehört auch „emotionale Intelligenz“, die sich laut John Hattie auf „Fähigkeiten, emotionsbezogene Informationen zu regulieren, zu steuern und zu zeigen, sowie auf die Selbstkontrolle und Selbstmotivation“ (5) beziehen (Hattie, S. 78–81). (6)
Äußere unterstützende Einflüsse sind Elternhaus, Schule, Schulbehörden, Curricula, Technologien u. v. m. Dabei kommt es darauf an, „den Lernenden zu helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen, … mit ihnen zusammenzuarbeiten, um das zu übertreffen, was sie für ihr Potenzial halten“ (Hattie, S. 96).
Der wichtigste Faktor für erfolgreiches Lernen überhaupt
Der wichtigste Faktor für Lernen überhaupt liegt aber in der „Kollektiven Wirksamkeitserwartung“ durch die Lehrerinnen und Lehrer und in der „Einschätzung des Leistungsniveaus durch die Lehrperson“ (7). Es liegt in der gemeinsamen Verantwortung der Lehrenden, die Lernenden zum eigenständigen Lernen zu ermächtigen und eine entsprechend positive Zuschreibung und Erwartungshaltung für den Erfolg zu legen.
Festzuhalten bleibt: Für John Hattie gibt es keine festgeschriebene Begabung, sondern ein umfassendes „Potenzial“, das für den Lernenden ausbaufähig ist – ausgehend von seinem aktuellen Leistungsniveau und auf die zukünftigen Lernmöglichkeiten bezogen.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
C. Fischer: Begabungsförderung – Ein Schlüssel für die Gestaltung unserer Zukunft
Anlass und Anspruch aktueller Begabungsforschung und transformativer Begabungsförderung – eine Bestandsaufnahme
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Begabungsförderung
– Ein Schlüssel für die Gestaltung unserer Zukunft
Christian Fischer
Die globalen Herausforderungen verdeutlichen, dass ein gesellschaftlicher Wandel dringend erforderlich ist. Die nachhaltige Gestaltung unserer Zukunft erfordert Akteur:innen mit ausgeprägtem analytisch-kritischen Engagement und ethischer Verantwortungsübernahme. Dabei kann die transformative Begabungsförderung von jungen Menschen im schulischen Kontext einen wegweisenden Beitrag leisten.
Transformative Begabungsförderung bei jungen Menschen
Angesichts der aktuellen globalen Herausforderungen (z.B. Weltklima, Weltgesundheit, Weltfrieden) ist ein fundamentaler ökologischer, ökonomischer und sozialer Wandel in unserer Gesellschaft dringend erforderlich. Die aktive Gestaltung derartiger Transformationsprozesse erfordert Akteur:innen mit hochentwickelten Kompetenzen verbunden mit einer ausgeprägten Persönlichkeit bezogen auf ein analytisch-kritisches Engagement und ethische Verantwortungsübernahme (Sternberg, 2017). Dazu bedarf es eines personenorientierten Wissens, aber auch eines gemeinwohlorientierten Handelns, das sich heute schon bei besonders engagierten jungen Menschen zeigt, die sich für eine nachhaltige Zukunftsgestaltung in unserer Gesellschaft engagieren. Bei diesen Personen mit zivilgesellschaftlichem Engagement und kreativem Problemlösungsverhalten werden neben adaptiven Fähigkeitspotenzialen (z. B. Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken) auch transformative Persönlichkeitspotenziale (z .B. Motivation, Resilienz, Achtsamkeit) sichtbar. Wie das in die Fläche getragen werden kann, ist Anlass und Anspruch heutiger Begabungsforschung und transformativer Begabungsförderung. Grundlage einer derartigen nachhaltigen Potenzialentwicklung sind exzellente innovative Lernumgebungen vor allem im schulischen Kontext, welche die vielfältigen Potenzialbereiche von Personen in sozialen Kontexten ansprechen (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023).
Im Rahmen der transformativen Begabungsförderung wird auf der einen Seite die Transformation individueller Potenziale in domänenspezifische Performanz (z. B. Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften) bezogen auf die Verantwortungsübernahme für die eigenen Lernprozesse in den Blick genommen. Auf der anderen Seite wird die Transformation persönlicher Potenziale in zukunftsgerechte Performanz (z. B. kreatives Problemlösen, ethisches Engagement) im Hinblick auf die Verantwortungsübernahme für die gesellschaftliche Zukunftsgestaltung adressiert. Dieses transformative Begabungsverständnis fokussiert die aktuellen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, für deren Bewältigung es junger Menschen bedarf, die zur Lösung dieser Probleme beitragen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen (Sternberg, 2023). So zielt die transformative Begabungsförderung bei jungen Menschen darauf, persönliche Entwicklungen zu realisieren, aber auch gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der nachhaltigen Entwicklung zu initiieren (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023). Diese Zusammenhänge werden im transformativen Modell der Begabungs- und Leistungsentwicklung (TMBL) mit Blick auf die nachhaltige Potenzial- und Performanzentwicklung von Personen in sozialen Kontexten beschrieben, wobei eine adaptive Lernumgebung auf der Personen-, Institutionen- und Systemebene verbunden mit einer wachstumsorientierten Haltung bedeutsam ist (Fischer et al., 2024).
Adaptive Lernarchitekturen zur nachhaltigen Potenzialentwicklung
Der Erwerb von zukunftsfähigen Gestaltungskompetenzen junger Menschen – fokussiert auf die langfristige zivilgesellschaftliche Verantwortungsübernahme – erfordert im Sinne einer Bildung für nachhaltige Potenzialentwicklung adaptive Lernarchitekturen vor allem im schulischen Kontext, wie in der Förderinitiative „Leistung macht Schule“ (LemaS). Dabei werden zunächst individuelle Lernpotenziale zur Verantwortungsübernahme für das eigenen Lernen nachhaltig entwickelt, bevor entfaltete Leistungspotenziale zur Verantwortungsübernahme für die gesellschaftliche Zukunft (z. B. im Rahmen der Nachhaltigkeits-, Demokratie- oder Friedensbildung) eingesetzt werden. Die Expertise zum eigenständigen Lernen wird vor allem in Lernarchitekturen zum selbstregulierten forschenden Lernen erworben, während die Agency, die Handlungsfähigkeit im Sinne eines gemeinwohlorientierten Agierens insbesondere durch Lernformate zum transformativen problembasierten Lernen entwickelt werden kann (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023).
So kann die Kompetenz zum selbstregulierten Lernen etwa im Rahmen von diagnosebasierten individualisierten Förderformaten (diFF) erworben werden, welche Strategien des selbstregulierten forschenden Lernens (d. h. Informationsverarbeitung, Lernprozesssteuerung, Selbstregulation) fördern und herausfordern (Fischer et al., 2021). Dabei werden drei Ziele fokussiert: 1) Entwicklung von Lerninteressen mittels individueller Spezialthemen, 2) Herausforderung von Lernpotenzialen mittels eigenständiger Forschungsarbeiten, 3) Förderung von Lernkompetenzen mittels adaptiver Strategievermittlung. Hier ist die adaptive Lernbegleitung von Lehrpersonen zentral, damit diese im Sinne des Scaffolding (engl. „Gerüst“, d. h. Unterstützungsangebot angepasst an die Lernpotenziale) die Zone der proximalen Entwicklung der Lernenden bezogen auf die zunehmende Verantwortungsübernahme für eigene Lernprozesse ermöglichen (van de Pol, Volman & Beishuizen, 2010). In diesen diagnosebasierten Förderformaten werden sechs Phasen (1. Förderdiagnostik, 2. Themenwahl, 3. Informationsrecherche, 4. Produktdokumentation, 5. Ergebnispräsentation, 6. Projektreflexion) der Unterrichtsentwicklung adressiert, aber auch die Schulgestaltung (z. B. Leitbildentwicklung, Qualifizierung) fokussiert (Vohrmann, Fischer & Fischer-Ontrup, 2020).
Die Bereitschaft zum gemeinwohlorientierten Handeln kann etwa im Kontext von adaptiven Förderformaten zur nachhaltigen Zukunftsgestaltung entwickelt werden, wobei Lernende zunächst Wissen zu den Sustainable Development Goals erwerben, um dann ihr Umfeld durch Aktionen zu nachhaltigem Engagement zu bewegen (Kohnen, Fischer & Fischer-Ontrup, 2021). Das digital gestützte Format orientiert sich an den Prinzipien des Design Thinking als einem systematischen, iterativen Prozess, bei dem produktorientierte Lösungen zu realen Problemstellungen konzipiert werden (Shivley, Stith & Rubenstein, 2021). Ein Fokus liegt auf den 21st Century Skills (d. h. Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken), womit die Verantwortungsübernahme für die gesellschaftliche Zukunft in den Blick genommen wird. Dies gilt auch für das Förderformat zum Sustainable Entrepreneurship, das mit Blick auf nachhaltige unternehmerische Initiativen ebenfalls Phasen des Design Thinking umfasst (1. Problem finden, 2. Problemfeld erkunden, 3. Problem definieren, 4. Lösungsideen entwickeln, 5. Lösung/Prototypen entwickeln, 6. Lösung/Prototypen testen), wobei neben der Unterrichtsentwicklung auch die Schulgestaltung und Professionalisierung in den Fokus rückt (Fischer & Fischer-Ontrup, 2023).
Diese adaptiven Lernarchitekturen sind stets von potenzial- und wachstumsorientierten Denkweisen geprägt, die sich an der Idee des Growth Mindset (Dweck, 2006) ausrichten verbunden mit der Erkenntnis, dass die Potenziale junger Menschen entwickelbar und veränderbar sind. Konkret zeigt sich eine wachstumsorientierte Haltung von Lehrpersonen in hohen Erwartungen, ausgeprägtem Vertrauen und individueller Unterstützung (Lokhande & Grießig, 2021); diese Denkweise ist im Schulischen Kontext vor allem für Lernende aus bildungsbenachteiligten Lagen bedeutsam.
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
P. Schreiber (im Interview): Begabungsförderung in Schleswig-Holstein
Die Fortbildungsverantwortliche für Begabten- und Begabungsförderung in Schleswig-Holstein beantwortete unsere Fragen.
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Begabungsförderung in SH Langfassung
Begabungsförderung in Schleswig-Holstein
Ein Interview
Christa Lohmann und Dieter Zielinski führten ein Interview mit Petra Schreiber am 24.09.2024 im IQSH
Das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (IQSH) unterstützt die Schulen dabei, Begabungs- und Begabtenförderung ganzheitlich in ihrer pädagogischen Praxis umzusetzen. Zu den Angeboten des Instituts gehören u. a. Fort- und Weiterbildungsangebote, Beratung, die Springer-Förderung, die Ausbildung von Schülerpaten sowie die Verknüpfung mit der außerunterrichtlichen Begabtenförderung im Enrichment-Programm SH. Mit der Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ (LemaS) ist ein großes Projekt hinzugekommen, das insbesondere auch die Gemeinschafts- und Grundschulen miteinbezieht. Petra Schreiber leitet das Sachgebiet für Begabten- und Begabungsförderung.
Die Grundlage des Interviews ist der Artikel „Begabungsförderung“, den das IQSH im Netz veröffentlicht hat.1
Nach herzlicher Begrüßung und unserer Frage nach ihrer Arbeit für LemaS eröffnet Frau Schreiber das Interview.
Schreiber (S): LemaS ist eine Initiative von Bund und Ländern zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler. Das führt uns auch gleich zu der Frage, welches Begabungs- und Leistungsverständnis in einer Schule zugrunde gelegt wird. Für mich ist der wesentliche Ausgangspunkt in der Bund-Länderinitiative LemaS, dass wir auch potenziell leistungsstarke Kinder und Jugendliche finden und fördern sollen. Das sind aus meiner Sicht ALLE…! Durch LemaS sollen die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen optimiert werden und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status. Es geht also nicht nur um eine reine Förderung von intellektuellen Begabungen, sondern um eine ganzheitliche, personorientierte Begabungsförderung.
Der positive und stärkenorientierte Blick von allen in Schule beteiligten pädagogischen Fachkräften ist die Grundlage für eine begabungsfreundliche Lern- und Lehrkultur, die in jeder Schulart gelebt werden sollte. Mit dieser positiven Pädagogik, die von einer professionellen Haltung getragen wird, können Förder- und Fordermöglichkeiten entwickelt, erprobt und etabliert werden. Die jetzige LemaS-Transferphase unterstützt mit ihren Materialien, den sogenannten P³rodukten (P³=Produkt-Person-Prozess) diese Entwicklung einer begabungs- und leistungsförderlichen Schul- und Unterrichtskultur. Derzeit werden die Produkte in drei Schulnetzwerken in Schleswig-Holstein erprobt.2
Wie kombinieren Sie die Begabungsförderung mit der inklusiven Schule, die ihr Unterrichtsangebot auf die ganze Breite der Schülerschaft ausrichtet? Vor allem an den Gemeinschaftsschulen ohne Oberstufe haben wir bekanntlich eine sehr durchmischte, teilweise schwierige Schülerklientel.
S: Es geht nicht, wie bereits angedeutet, um die bloße Aneignung von besonderen Methoden, den Einsatz von „geeigneten“ Materialien oder die Bereitstellung von Angeboten für ein paar ausgewählte Schülerinnen und Schüler. Begabungsförderung und inklusive Unterrichtsentwicklung wachsen immer im Kontext von innovativer Schulentwicklung. Inklusive Lernsettings haben dabei das Ziel, im Unterricht und in der Schulstruktur Raum für die Entfaltung der Potenziale von Kindern und Jugendlichen zu bieten. Die Begabungen müssen nicht unweigerlich in den Schulfächern auftreten. Wenn sie erfolgreiche Lernprozesse initiieren wollen, dann lohnt es sich, ein besonderes Augenmerk auf die systematische Entwicklung der Selbstkompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zu legen. Auf dieser Grundlage entwickeln wir derzeit im IQSH die Kurse der Springerförderung inhaltlich weiter und weiten das Angebot auf die Gemeinschaftsschulen aus.
Wie macht man das denn, Begabungen bei Kindern zu finden? Bezieht sich das zunächst auf die Schulfächer oder geht es darüber hinaus?
S: Da heißt es: Achtung! Begabungen lauern überall! Es lohnt sich auf jeden Fall auf Schatzsuche im Klassenzimmer zu gehen. So gibt es sicher viel mehr Kinder und Jugendliche, die begabt sind, aber dieses vielleicht nicht gerade im Unterricht zeigen. Vor allem dann nicht, wenn die Aufgabenformate wenig divergentes Denken zulassen und das interessengesteuerte Lernen wenig Berücksichtigung findet. Wir müssen uns in Schulen fragen, an welchen Stellen wir Freiraum für Persönlichkeitsentwicklung schaffen können, damit wir über die Stärkung der Selbstkompetenz auch eine Steigerung der Fach- und Methodenkompetenzen bewirken.
Das ist ein weiter Weg. Wie schaffen Sie den Zusammenhalt in einer sehr heterogen zusammengesetzten Lerngruppe?
S: Sie können den Zusammenhalt stärken, indem sie Lern- und Begegnungsräume schaffen. Wenn sie der Grundannahme folgen, dass jedes Kind besonders ist und jedes Kind über besondere Stärken verfügt, dann gibt es keine Ausnahmeregelungen bei individuellen Fördermaßnahmen. Da sind wir wieder bei der Haltung und der Rollenvielfalt der Lehrkraft, die die Prozesse auf verschiedenen Ebenen moderieren und begleiten muss.
Wie können Lehrkräfte dafür sensibilisiert werden, dass sie besondere Begabungen erkennen?
S: In den Fort- und Weiterbildungen halten wir unterschiedliche Formate in Präsenz vor (siehe Fachportal3 und formix4). Wir bieten zudem auch ein kostenloses e-learning Programm5 an, in dem die einzelnen Handlungsfelder gelungener Begabungsförderung beleuchtet werden. Betrachtet werden die Bereiche Diagnose, Dialog, Entwicklung und Kompetenz, um dem Anspruch einer ganzheitlichen Potenzialentwicklung von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden.
Das Programm arbeitet mit verschiedenen digitalen Formaten wie Videos, animierten Erklärstücken, Interviews mit Personen aus der Wissenschaft, Praxis und außerschulischen Fachdisziplinen. Darüber hinaus gibt es vertiefende Texte und Beispiele. Über weiterführende Fragestellungen werden die Pädagogen aufgefordert, über die eigene Arbeit zu reflektieren und das zuvor Gelernte in die eigene Handlungspraxis und persönliche Einstellung einzuordnen.
Wir haben es mit einer hochkomplexen Heterogenität zu tun auf allen Feldern, ethnisch, religiös, soziale Herkunft usw. Wenn das in der Ausbildung, in der ersten Phase nicht berücksichtigt wird, dann ist es ganz schwer für die Lehrkräfte, damit klar zu kommen.
S: Ja, die Anforderungen an das Lehrerhandeln sind komplex und da braucht es u. a. Flexibilität, Reflexivität und natürlich auch Fachwissen. Im Bereich der Begabten- und Begabungsförderung erhalte ich nach den Fortbildungen häufig die Rückmeldung, dass allein schon das Wissen um die besonders oder hochbegabten Kinder (die ja keine homogene Gruppe darstellen!) ihnen enorme Erleichterung verschafft und vor allem mehr Sicherheit für ihre eigene pädagogische Praxis bringt. Eine reine „Wissensvermittlung“ in der ersten Lehrerphase führt aber noch nicht zum kompetenten Handeln in der Praxis. Es gilt immer wieder darum, selbstkritisch das eigene Handeln zu beleuchten. Hier planen wir aktuell mit unseren universitären Beratungsstellen ein Format, in dem fachwissenschaftliche Module unmittelbar mit der schulischen Praxis verknüpft werden. Wir haben in Schleswig-Holstein so viel innovative und hochentwickelte Schulen, die Lösungen für die genannten Herausforderungen gefunden haben! Der schleswig-holsteinische und deutsche Schulpreis machen dies jährlich sichtbar. Ich würde sagen, in diesem Zusammenhang ist Abgucken und Weitersagen ausdrücklich erwünscht. (Anm. d. Red: hierzu Lisa Kunze, Begabungsförderung im Dialog an der Anne-Frank-Schule Bargteheide, in diesem Heft)
Sie haben gesagt, Sie machen viel über Fort- und Weiterbildung. Im Text über die Begabungsförderung heißt es, dass Sie passgenaue Schulentwicklungstage anbieten. Könnten Sie das bitte für uns konkretisieren?
S: Es geht darum, dass sich Schulen immer standortspezifisch und ressourcenabhängig für die Begabungsförderung weiterentwickeln. Dabei schauen wir mit den Beteiligten auf den aktuellen Schulentwicklungsprozess und identifizieren zuallererst die vorhandenen Stärken. Oft wirkt die Begabungs- und Begabtenförderung als Katalysator für Schulentwicklungsprozesse, weil es im Wesentlichen um die Qualitätskriterien des Kerngeschäftes von Schule und damit von gutem Unterricht und guter Schule geht. Für das Kollegium und die Schulleitung sind die von uns durchgeführten Potenzialanalysen eine Bestätigung ihrer bisher geleisteten Arbeit. Begabungsförderliche Strukturen zu etablieren, bedeutet kein grundlegendes Umdenken, sondern systematisches Weiterentwickeln der Prozesse und offen bleiben für interne und externe Impulse. Wie beim forschenden Lernen: Die Neugierde und Experimentierfreude erhalten.
Ich komme nochmal auf die Haltung zurück. Ist das auch ein Aspekt in Ihren Fortbildungsveranstaltungen?
S: Als Aspekt würde ich das nicht bezeichnen, eher als zentralen Bestandteil, der implizit in jeder unserer Fortbildungsveranstaltungen verankert ist. Die „richtige“ Haltung können wir ja nicht verordnen, nur immer wieder vorleben und nach den „guten“ Prinzipien handeln. Daher braucht es in Schule immer wieder einen lebendigen Diskurs, eine Verständigung über die Frage „Was leitet uns?“ Das ist eine äußerst wichtige Auseinandersetzung für die die Zeit im schulischen Alltag häufig zu fehlen scheint – dennoch ist sie gewinnbringend, weil sie letztendlich vereint und damit stärkt.
In Ihrem Artikel steht: „Individuelle unterrichtliche Lernarrangements sind grundsätzlich von außerunterrichtlichen Formen der Begabungsförderung zu trennen. Allerdings sollen diese nebeneinanderstehenden Bausteine durch gute Abstimmung der Lehrkräfte, Eltern, Lernenden und außerschulischen Anbietern so ineinandergreifen, dass passende Angebote die betreffenden Lernenden erreichen.“ Was heißt das konkret?
S: Die Enrichment-Angebote in SH vertiefen und erweitern die thematischen und methodischen Unterrichtsangebote und ermöglichen begabten Schülerinnen und Schülern eine zusätzliche, außerschulische Förderung.
Zudem haben alle Schulen in unserem Land die Möglichkeit, ihre Schüler:innen an dem kostenlosen Angebot der länderübergreifenden „Digitalen Drehtür“6 teilnehmen zu lassen. Die Seminare finden auch vormittags statt und damit parallel zum Unterricht.
Nimmt also eine Schülerin, ein Schüler solch ein besonderes Angebote wahr, z. B. an Wettbewerben oder den Juniorakademien, dann ist die Einbindung dieser Inhalte in die schulische Praxis ein entscheidender Faktor für die ganzheitliche Begabungsförderung. Dieses Selbstverständnis würde die Akzeptanz von unterschiedlichen Förder- und Forderbedarfen erhöhen und damit das Risiko der Ausgrenzung im Klassenverband verringern.
Wir sollten diese Vorgehensweise insbesondere für die Weiterentwicklung der Ganztagsschulen nutzen. Die Verknüpfung von Vor- und Nachmittagsangeboten und die erforderliche Zusammenarbeit von verschiedenen Berufsgruppen bietet für die Förderung von Begabungen, aber auch für die Entdeckung von Potenzialen eine besondere Chance.
Zum Schluss noch die ganz konkrete Frage nach LemaS in Schleswig-Holstein
S: Wir können im Schuljahr 2023/24 unsere drei LemaS-Schulnetzwerke gut in die vorhandene Struktur der hiesigen Begabungs- und Begabtenförderung einbinden. Die seit 2010 bestehenden Kompetenzzentren in der Sek. I/II, Kompetenzzentren Kita-Grundschule und die sogenannten SHiB-Schulen (Schleswig-Holstein inklusive Begabtenförderung) bieten mit ihrer individuellen Expertise beste Voraussetzungen, um die LemaS-Leitidee langfristig in regionalen Kompetenznetzwerken umzusetzen.
Unser Ziel ist es, dass allen Schülerinnen und Schülern in Schleswig-Holstein die Chance geboten wird, ihre Stärken und Talente zu entwickeln und dies unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem sozialen Status. In diesem Kontext erhoffen wir uns auch eine qualitative Vernetzung mit der Bund-Länder-Initiative „Startchancen“, den Bildungsregionen unserer Perspektivschulen, um die Bildungsbiografien von allen Kindern bestmöglich begleiten zu können.
Damit wurde das Interview beendet, und wir bedankten uns für das hochinteressante Gespräch.
1 https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/B/begabtenfoerderung/schulBegabungsfoerderung
2 https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/B/begabtenfoerderung/schulBegabungsfoerderung
3 https://fachportal.lernnetz.de/
4 https://formix.lernnetz-sh.de/
6 https://digitale-drehtuer.de/
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4
P. Ehrich: Verkannte Stärken – neuro-inklusives Lernen
Neurodiversität: Die inklusive Sicht auf Abweichungen von der „Norm“ verändert Schule
hier lesen
Verkannte Stärken
Herausforderungen und Perspektiven für ein neuro-inklusives Lernen
Peter Ehrich
Vorbemerkung
Dieser Artikel führt die Ergebnisse aus Interviews und Schreibgesprächen mit vier deutschen und internationalen Forschenden, Autor*innen, Lehrkräfteausbildner*innen und Berater*innen zum Thema Neurodiversität und Neuroinklusion zusammen. Interviewt wurden: Thomas Armstrong (Executive Director bei American Institute for Learning and Human Development und Autor), Paul Ellis (Head of Education Cambridge International Learning, Ausbilder und Autor), Karina und Svenka Kahl (Schul- und Elternchoaches) und Julia Thurner (Lehrkräftetrainerin und Transformationsbegleiterin für Schulen).
„Die Defizitorientierung hindert die Sicht auf die Stärken der Schüler und verstärkt das Gefühl des Andersseins“ (Thurner). Diese Erkenntnis ist besonders relevant im Kontext neurodivergenter Lernender, die unterschiedliche neurologische Bedingungen wie Autismus, AD(H)S, Dyslexie oder intellektuelle Beeinträchtigungen aufweisen. Diese Lernenden bringen besondere Herausforderungen und Stärken in das Bildungssystem mit.
Um eine inklusive Lernumgebung zu schaffen, müssen sowohl die individuellen Bedürfnisse dieser Schüler*innen als auch die Hürden des bestehenden Schulsystems berücksichtigt werden. Der folgende Artikel beleuchtet die wichtigsten neurodivergenten Bedingungen, ihre Herausforderungen und Stärken, die systemischen Hürden sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen.
Zappelphilipp, Träumer und Schusselchen – Neurodivergente Lernende in der Schule und ihre Stärken
In einer inklusiven Gesamtschule einer mitteldeutschen Großstadt stammen die Schüler*innen aus Familien mit unterschiedlichen Einkommensverhältnissen, einschließlich 14 % mit Migrationshintergrund. An einem Schultag unterrichtet eine Lehrkraft in vier Klassen mit je etwa 25 Schüler*innen und trifft auf 5–6 Kinder mit LRS/Dyslexie, ebenso viele mit AD(H)S und 3–8 mit Dyskalkulie. Oft ist auch ein Kind mit ASS dabei. Diese Prävalenz verdeutlicht die starke Vertretung neurodivergenter Lernender in Schulen. In der Tabelle werden die häufigsten Diagnosen mit ihren Herausforderungen nach DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und den damit verbundenen Stärken aufgeführt.
Kondition |
Prävalenz |
Schwächen nach DSM |
Stärken |
Dyslexie/ |
Ca. 5 % in Deutschland, |
Schwierigkeiten beim Erkennen von Wörtern: Langsame, fehlerhafte oder stockende Lesefähigkeit: Rechtschreibprobleme: |
Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten; Ausgeprägte Empathiefähigkeit. |
AD(H)S |
Ca. 5–7 % in Deutschland, |
Unaufmerksamkeit: Impulsivität: Hyperaktivität: |
Hyperfokussierung auf interessante Themen; hohe Kreativität und Innovationsfähigkeit; ausgeprägte Energie und Begeisterung. |
Rechen-schwäche/ |
Ca. 3–8 % in Deutschland, |
Schwierigkeiten beim Erlernen von Rechenoperationen: Probleme mit mathematischen Regeln und Konzepten. Probleme mit Zahlenverständnis: |
Häufig starke räumliche Vorstellungskraft; |
Dyspraxien |
Ca. 3–8 % weltweit |
Ungeschicklichkeit: Schwierigkeiten bei der Planung von Bewegungen. |
Kreative Ansätze zur Problemlösung; |
Autismus-Spektrum-störung/ |
0,6–0,7 % in Deutschland, |
Defizite in der sozialen Interaktion: Schwierigkeiten, soziale Signale zu erkennen. Eingeschränkte, stereotype Verhaltensweisen: |
Detailorientierung und tiefes Fachwissen in spezifischen Interessensgebieten; |
Die Begriffe ‚Schwächen‘, ‚Defizit‘ und ‚Störung‘ erscheinen hier als Zitate aus dem DSM. Der Autor dieses Artikels teilt diese Begrifflichkeit nicht. Sie werden ersetzt durch ‚Bedarf‘ und ‚Herausforderung‘. |
Herausforderungen und Stärken: Die duale Perspektive
Neurodivergente Lernende stehen häufig vor Herausforderungen wie der Stigmatisierung durch Mitschüler*innen und Lehrkräfte, einer mangelnden Akzeptanz ihrer Lernstile sowie einem an Defiziten orientierten Schulsystem, das ihre individuellen Stärken oft nicht erkennt. Leistungspotenziale können dann womöglich nicht in vollem Maß entfaltet werden. Es droht Leistungsversagen durch Underachievement. Kahl betont die Benachteiligung, die neurodivergenten Schüler*innen daraus erwächst, und stellt fest: „In der Schule bleibt man stehen, während andere sich weiterentwickeln.“
Trotz dieser Herausforderungen besitzen neurodivergente Schüler*innen einzigartige Stärken, die in einem unterstützenden Umfeld zur Entfaltung kommen können. Dies reicht von besonderen Problemlösungsfähigkeiten über Detailgenauigkeit bis hin zu kreativen Ansätzen in verschiedenen Fachbereichen.
Hürden im Schulsystem auf den betrachteten Ebenen: Die Herausforderungen der traditionellen Struktur
Systemische Hürden:
Das derzeitige Schulsystem ist oft starr und lässt wenig Raum für individualisierte Lernansätze. Daher „braucht es mehr Anerkennung für die Vielfalt der Talente und Interessen, die Kinder mitbringen“ (Ellis). Dies führt dazu, dass Lehrkräfte Schwierigkeiten haben, Lehrmethoden zu finden, die für alle Schüler*innen geeignet sind.
Mangelnde Differenzierung:
Die oft fehlende Differenzierung in den Unterrichtsmethoden kann dazu führen, dass neurodivergente Schüler*innen nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Armstrong sagt dazu: „Eine Einheitsgröße passt nicht für alle; wir müssen den Unterricht an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen“. Standardisierte Tests verstärken zudem den Druck und lassen oft wenig Raum für alternative Bewertungskriterien (Ellis). Dieses Defizit an Differenzierung bezieht sich auch auf die Öffnung der räumlichen und zeitlichen Lernumgebung (Thurner).
Lehrkräfte und Sensibilisierung:
Viele Lehrkräfte sind nicht ausreichend über neurodivergente Bedingungen informiert, was zu Missverständnissen und unzureichender Unterstützung führt. Ellis betont: „Die Ausbildung der Lehrkräfte muss dringend erweitert werden, um inklusiven Unterricht zu gewährleisten“. Hier sind regelmäßige Schulungen und Workshops notwendig, die Lehrkräfte für die Vielfalt in ihren Klassen sensibilisieren. Anzusetzen ist auch in der wissenschaftlichen Forschung und der Bereitstellung entsprechender Literatur. Thurner mahnt in diesem Kontext an, „Es ist wirklich erschreckend, wie wenig wir in Deutschland zu diesem Thema haben.“ Sowohl die Aufbereitung einschlägigen Informationsmaterials als auch entsprechender Fortbildungsangebote bleiben hier noch ein Desiderat.
Mangel an Ressourcen:
An vielen Schulen mangelt es an den notwendigen Ressourcen, um neurodivergente Lernende zu unterstützen. Dies betrifft sowohl Lehrmaterialien als auch Personal, das in den spezifischen Bedürfnissen dieser Schüler*innen geschult ist. Der Mangel an spezialisierten Fachkräften führt dazu, dass Lernende nicht die individuelle Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und das Fach- und Handlungswissen nicht interkollegial etwa bei der gemeinsamen Entwicklung von Unterricht oder gemeinsamen Fortbildungen gestreut werden kann.
Soziale Isolation:
Neurodivergente Schüler*innen erleben oft soziale Isolation, sowohl durch das Stigma ihrer Bedingungen als auch durch Schwierigkeiten, soziale Beziehungen zu knüpfen. Armstrong hebt hervor: „Wenn wir soziale Integration nicht aktiv fördern, verlieren wir wertvolle Perspektiven und Talente“ (Armstrong). Programme, die den Austausch zwischen neurodivergenten und neurotypischen Schüler*innen fördern, sind dringend erforderlich. Vergleichbare Angebote wären auch auf Ebene der Elternarbeit förderlich.
Forderungen zur Verbesserung der inklusiven Bildung für neurodivergente Lernende
Um die schulischen Bedingungen für neurodivergente Lernende zu verbessern, sind folgende neun Forderungen wegweisend:
Lehrkräftebildung und Sensibilisierung
Lehrkräfte sollten in der Anerkennung und Wertschätzung von Neurodiversität geschult werden. Fortbildungsangebote zu inklusiven Lehrmethoden und den spezifischen Bedürfnissen neurodivergenter Schüler*innen können dazu beitragen, ein besseres Verständnis für deren Stärken und Herausforderungen zu entwickeln.
Differenzierte Lehrmethoden
Durch die Implementierung verschiedener Lehrmethoden, die sowohl visuelle, auditive als auch kinästhetische Lernstile berücksichtigen, können alle Schüler*innen besser erreicht werden.
Unterstützung durch Technologien
Die Integration moderner Technologien und digitaler Lernmittel kann neurodivergenten Lernenden helfen, ihre Lernprozesse zu optimieren. Tools, die auf persönliche Bedürfnisse zugeschnitten sind, bieten den Lernenden die Möglichkeit, ihr Lernen selbstbestimmt zu gestalten.
Förderung von Resilienz und emotionaler Intelligenz
Schulische Programme zur Förderung der sozialen und emotionalen Resilienz von neurodivergenten Schüler*innen sind von zentraler Bedeutung. Diese Programme können ihnen helfen, mit Herausforderungen besser umzugehen und ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Individuelle Lernpläne
Die Erstellung individueller Lernpläne für neurodivergente Lernende ist unerlässlich, um deren spezifische Stärken und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Diese Pläne sollten regelmäßig überprüft und angepasst werden.
Peer-Mentoring-Programme
Die Implementierung von Peer-Mentoring-Programmen kann neurodivergenten Lernenden helfen, sich im Miteinander und im Lernen besser zurechtzufinden. Mentor*innen können wertvolle Unterstützung bieten und den Austausch fördern.
Zusammenarbeit mit Eltern und Fachleuten
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Eltern und Fachleuten ist entscheidend, um eine ganzheitliche Förderung neurodivergenter Lernender sicherzustellen. Regelmäßige Gespräche und Austausch sind notwendig, um den Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht zu werden.
Anpassung der schulischen Infrastruktur
Die schulische Infrastruktur sollte so gestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen neurodivergenter Lernender entgegenkommt. Dazu gehört die Schaffung von Rückzugsorten, Ruhebereichen und flexiblen Lernumgebungen.
Sensibilisierung der Schulgemeinschaft
Programme zur Sensibilisierung und Aufklärung über Neurodiversität in der Schulgemeinschaft können dazu beitragen, Mobbing und Stigmatisierung zu reduzieren und ein respektvolles Miteinander zu fördern.
Fazit: Die Vision einer inklusiven Bildung
Die Förderung neurodivergenter Lernender erfordert ein Umdenken im Bildungssystem. Durch die Anerkennung der individuellen Stärken und die Überwindung systematischer Hürden kann eine inklusive und unterstützende Lernumgebung geschaffen werden. Gezielte Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen – von der Aufklärung über die Anpassung der Lernmethoden bis hin zur Schaffung eines flexiblen Curriculums – sind unerlässlich, um allen Schüler*innen, unabhängig von ihren neurologischen Bedingungen, die bestmöglichen Voraussetzungen für ihren Lernerfolg zu bieten.
Mehr zum Thema:
Thomas Armstrong: www.institute4learning.com
Paul Ellis: https://paul-ellis.net
Karina und Svenka Kahl: www.menschenbildung.de
Julia Thurner: www.instagram.com/mrs_thurner/?hl=de
Artikel aus Die Schule für alle Heft 2024/4